FILM
The Grand Tour: Seamen
Kalauer, die dem Klimadiskurs nicht helfen
Amazon Prime | Verfügbar seit dem 13.12.2019
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Die Zeiten für prollige Automobilsendungen könnten kaum unsicherer sein: Klimadiskurs, emissionsfreie Antriebe und eine gesunde Skepsis für des Mannes liebstes Spielzeug stehen
Rekord-Zulassungszahlen von SUVs gegenüber. Auch dem Moderatoren-Trio des nihilistischen Automobilmagazins „The Grand Tour“ ist das nicht verborgen geblieben. Weswegen sie sich diesmal in
Spielfilmlänge auf drei höchst unterschiedliche, spritfressende Boote begeben, um den Mekong zwischen Kambodscha und Vietnam hinunterzuschippern. Warum das trotz der offensichtlichen
Altmänner-Attitüde extrem amüsant und unterhaltsam ist, unterstreichen die nachfolgenden fünf Gründe.
1. Alternative Fakten und Schwanzvergleiche
Ja, auch die Nachbildung des PBR (Patrol Boat River) von Jeremy Clarkson, das Scarab-Speedboat von Richard Hammond und das 1933 gebaute Pettersson Salonboot von James May verbrauchen Unmengen an klimaschädlichem Treibstoff. Die kritische Betrachtung des Klimawandels wird also direkt ad absurdum geführt, während das Moderatorentrio an Land (ironisch wenig subtil) auf klapprigen Fahrrädern unterwegs ist und gegen vorbeifahrende Autos hetzt. PS-protzende Autos machen eine Pause, denn die GT-Moderatoren müssen sich diesmal auf Booten von Siam Reap in Kambodscha nach Vũng Tàu in Vietnam durch die Kanäle des Ton Le Sap und des Mekong kämpfen. Eine hübsche Kulisse für die grundsätzlich identischen Inhalte der längst legendären Sendungen von Clarkson, Hammond und May, die vor „The Grand Tour“ gemeinsam das umstrittene Automagazin „Top Gear“ bei der BBC moderierten. Britischer Pennäler-Humor von drei älteren Herren, die sich stets albernen Wettkämpfen hingeben, bei denen prollige, teure oder irrsinnig schnelle Transportmittel im Mittelpunkt stehen. Was abseits aller umweltpolitischen Korrektheit auch hier leider wieder ziemlich lustig ist.
2. Meinen die das ernst?
Wenn Clarkson als das Alphatier des Rudels mit seiner sonoren Stimme und vornehmem britischen Zungenschlag über Pol Pot, den Klimawandel oder die Tatsache doziert, dass die Vietnamesen völlig zurecht den Vietnamkrieg gewonnen haben, ist man ein wenig verwirrt. Immerhin brettert er gleichzeitig mit einem tarngrünen, amerikanischen Boot durch asiatische Gewässer, welches im Original von den USA einst im Krieg gegen Vietnam eingesetzt wurden. Und gerade diese Mischung aus männlicher Ignoranz, BBC-Weltreisedoku-Elementen und vielen, vielen höchst albernen Slapstick-Einlagen sorgen für eine kurze Verschnaufpause im eigenen Bestreben, alles richtig und die Welt noch ein Stückchen besser zu machen. Wenn es nur noch drei Menschen geben dürfte, die mit umweltschädlichen, völlig übermotorisierten Vehikeln durch die Gegend gondeln dürften, dann vielleicht diese drei Neandertaler. So kann man vor dem nahenden Weltuntergang wenigstens noch einmal herzlich und hysterisch lachen. Sogar wenn einem schnelle Boote und dicke Autos grundsätzlich total egal sind.
3. Auftakt zu einer neuen Reihe
„Seamen“ (ja, der englische Wortwitz ist natürlich beabsichtigt) markiert den Beginn einer neuen Reihe von „Abenteuer-Roadtrip-Specials“, wie Amazon Prime Video es nennt. In „James May: Our Man in… Japan“, Clarksons „I Bought A Farm (Arbeitstitel)” oder der Pop-Science-Serie mit Richard Hammond und Tory Belleci („MythBusters”) geht es wahlweise um fremde Kulturen, dem Moderator (Clarkson) völlig fremdes Kultivieren von Pflanzen oder wissenschaftlich angehauchte Popkultur-Phänomene. Schon bei „Top Gear“ (1989-2015) ging es trotz aller aufrichtigen Leidenschaft für das Automobil zu gleichen Teilen auch darum, die ganze Vergötterung ins Absurde zu ziehen. Im Zweifel hatte ein britisch-gefärbter Kalauer hier immer Vorrang vor den Rennfahrerqualitäten des Moderators oder den technischen Kapazitäten des Herrenbeschleunigers. Komödiantisches Talent, gepaart mit britischem Sprachwitz kann eigentlich jeden Inhalt durchmoderieren. Weswegen auch „Seamen“ zwar viele Facetten vorweisen kann, in erster Linie aber als Statement dafür steht, grundsätzlich alles zu hinterfragen und gleichzeitig nicht alles so ernst zu nehmen.
4. Was denn bitte für Facetten?
Nüchterne Einblicke in die kambodschanische und vietnamesische Kultur, prächtige Landschaftsbilder und die typische asiatische Hilfsbereitschaft und Höflichkeit, die der britischen Etikette nicht ganz unähnlich ist. Sofern diese nicht nach acht Pints und einer niederschmetternden Fußballübertragung aus dem Pub gewankt kommt. Ein paar geschichtliche Fakten, Anekdoten über das Mekong-Delta und die historischen Hintergründe der verwendeten Boote, ohne dass diese Infos in eine dokumentarische Nachhilfestunde ausarten. Brilliant-komische Momente, wie der, in dem sich Clarkson vor einem Verkaufsstand gefühlt eine Minute mit einem frisch erworbenen Deospray einnebelt, sehr zur schüchternen Verwunderung der Verkäuferinnen. „Can I have another one, for the other armpit? Thank you!” Statt Beschleunigungsrennen gibt es heftigen Wellengang, prasselnden Monsunregen und plötzliche Windböen, die kurz vor dem Ziel bei den Kombattanten doch arge Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Unternehmung aufkommen lassen.
5. Brits swear better
Kraftausdrücke und Schimpftiraden aus dem amerikanischen HipHop – kann man heute an jeder Dorf-Supermarktkasse von 15-jährigen Halbstarken aufsammeln. Der Brite hat
sich selbst für den wildesten Wutausbruch einen gewissen Stil bewahrt: „There’s no time for cocking about“, schwadroniert Clarkson am Anfang. „There’s not even enough water in there to drown a
witch”, heißt es angesichts des bedenklich niedrigen Wasserstands in einem Fluss-Teilstück. „Bollocks!“, „Bloody hell!“, „Sod it!“, oder ein schlichtes „Oh, shit!“ schmücken viele weitere
verzweifelte Ausrufe der drei Herren. Das hilft dem Klimadiskurs natürlich am Ende auch nicht weiter. Und ob Clarkson bei seiner Beschimpfung von Greta Thunberg („Thunberg has killed the car
show”) im Revolverblatt „The Sun“ wirklich nicht über den Tellerrand seiner Rolle als „Petrolhead“ hinausblickt, darf durchaus hinterfragt werden. Schließlich sind die Briten große Meister darin,
die vermeintlich ungeheuerliche Provokation in kuschelig-ironische Worte zu verpacken – wissen wir spätestens seit Monty Python’s Flying Circus.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Musikexpress
17.12. 2019
FILM
The Marvelous Mrs. Maisel (Staffel 3)
Sprachverliebtheit zum Totlachen
Amazon Prime | Verfügbar seit dem 06.12.2019
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Nach drei Golden Globes und acht Emmy Awards war klar, dass es eine dritte Staffel der großartigen Serie „The Marvelous Mrs. Maisel“ geben musste. Mrs. Maisel darf in den neuen acht Folgen, die seit dem 6. Dezember 2019 gestreamt werden können (nur in Originalsprache, die Synchronfassung folgt am 7. Februar 2020) als aufstrebende Komikerin auf Tour durch die USA gehen, was das Freund-Feind-Verhältnis zu Managerin Susie noch vertieft und für weitere brillante Dialoge und Wortwitze sorgt. Warum die neue Staffel auf Amazon Prime Video auch darüber hinaus wieder glänzen kann, unterstreichen die nachfolgenden fünf Gründe.
1. Musical-Momente für ausgemachte Musical-Hasser
Wer sich schon ein bisschen mit der Biografie von Produzentin und Co-Autorin Amy Sherman-Palladino beschäftigt hat, weiß, dass sie vor ihrer Fernsehkarriere einen Lauf als Tänzerin hatte. Eine ganz offensichtliche Querverbindung zu wiederkehrenden, durchchoreografierten Momenten in „The Marvelous Mrs. Maisel“, sei es nun bei einer Kamerafahrt durch umhertänzelnde Kosmetikverkäuferinnen, oder beim 1950er-Jahre-Workout mit Hula-Hoop-Reifen, der Miriam „Midge“ Maisels Figur vor der anstehenden Tour den letzten Schliff geben soll. Diese Musical-Momente, unterstützt von üppig-ausgestatteter Orchester-Dramaturgie bringen originellen Schwung in das Geschehen, den diese Serie ja eigentlich gar nicht gebraucht hätte. Aber schön anzusehen ist es in jedem Fall, auch für Menschen, die tanzende und singende Schauspieler zutiefst verabscheuen – aus gutem Grund verzichtet die Hauptfigur immerhin auf Kostproben ihres Gesangs. Schließlich ist sie ja Stand-up-Comedian.
2. Der Palladino-Effekt
Auch für die dritte Staffel „The Marvelous Mrs. Maisel“ muss man glücklicherweise nicht auf Amy Sherman-Palladino verzichten. Als Produzentin (auch hier wieder gemeinsam mit Ehemann Daniel Palladino), Autorin und Regisseurin eine Ausnahme-Erscheinung, was einem spätestens bei den „Gilmore Girls“ (2000-2007 als Autorin, Produzentin und Regisseurin) aufgefallen sein müsste. Geschliffener Wortwitz, pointiertes Geplapper und wahnsinnig schnelles Bonmot-Pingpong – damit konnten schon Lorelai und Rory Gilmore jeden Sprachwissenschaftler zum Schmelzen bringen. Und diese starken Dialoge dürfen wir auch bei Midge, ihren Widersachern und Verbündeten wieder erleben. Es war übrigens die Serie „Roseanne“, die Palladino als Autorin zum Fernsehen brachte, wofür sie ihre Karriere als Tänzerin aufgab. Über ihren 2012 verstorbenen Vater Don Sherman konnte sie praktischerweise Infos aus erster Hand über die Comedy-Szene der späten 1950er-Jahre in Greenwich Village besorgen – er war zu der Zeit Stand-up-Comedian in New York.
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3. Nur Juden können sich so geschmackvoll über Juden lustig machen
In Hollywood arbeiten zahlreiche Produzenten und Autoren mit jüdischem Background, auch Sherman-Palladino ist da keine Ausnahme. Weswegen es ihr natürlich erlaubt ist, jede jüdische Tradition, jedes jüdische Klischee und jedwede jüdische Charakterstärke mit gebührender Anerkennung durch den Kakao zu ziehen. Eine Konstante, die auch in der dritten Staffel für einige politisch-unkorrekte Lacher sorgt. Mit aufmerksamem Feixen darf zum Beispiel der Cowboy bedacht werden, der unter seinem texanischen Cowboyhut plötzlich eine Kippa offenbart. Eine kopflastige, aber praktische Emulsion der Kulturen, sozusagen.
4. Popkultur, Feminismus und Comedy
Natürlich steht die Popkultur der ausklingenden 1950er-Jahre noch auf anderen Füßen, als im Jahre 2019. Namen wie Joan Rivers, Phyllis Diller und Totie Fields, die zu den ersten erfolgreichen weiblichen Comedians der USA gezählt werden dürfen, sind da wichtig und werden immer wieder als Einflüsse für die Figur von Midge Maisel genannt. Maisel-Darstellerin Rachel Brosnahan erwähnte in einem Interview mit dem National Public Radio NPR die Komikerin Jean Carroll als Vorbild für die Rolle, die bereits in den 1950ern auf der Bühne stand, aber an unkonventioneller Verruchtheit nicht mit der Figur von Mrs. Maisel mithalten kann. Als Feministin sieht die Schauspielerin Midge Maisel indes nicht, wie sie der „New York Times“ erzählte: „Sie ist eine Figur ihrer Zeit. Aber sie ist neugierig und unersättlich.“ Der immer wieder auftauchende, und für Mrs. Maisels Erfolg als Stand-Upperin maßgebliche Lenny Bruce (gespielt von Luke Kirby) ist derweil keine fiktive Figur, sondern war einer der ersten US-Comedians, der mit politischen und sozialkritischen Stand-Up-Comedy-Auftritten großen Erfolg feierte und dafür öfter mal einfuhr.
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5. Musikreferenzen zum Nachgooglen
Natürlich bieten die 1950er- und 1960er-Jahre ein Füllhorn an uns unbekannter Musik, welches bei Mrs. Maisel mit Wonne ausgeschüttet wird. Interpretationen großer
Klassiker, orchestrale Schwelgereien, Mitsing-Evergreens und gar nicht so alte Pophits – es ist alles da und eröffnet die Möglichkeit, noch weiter in diese Ära amerikanischer Kultur einzutauchen
und sich auch musikalisch noch ein bisschen fortzubilden. In dieser Staffel treffen unter anderem Nina Simone, Thin Lizzy, Barney Kessel, The Rockettes, John Lennon und Fountains Of Wayne als
völlig ungleiche Musik-Joker aufeinander – was gleichermaßen für die Zeitlosigkeit großer (musikalischer) Kunst spricht, wie es auch erneut unterstreicht, dass Mrs. Maisel in jeglicher Hinsicht
das Zeug zu einem Serienklassiker hat, den man spätestens mit dieser Staffel nun mal wirklich liebhaben muss.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht beim Musikexpress
9.12.2019
FILM
Apple TV+
Apples eigener Streamingdienst - Wenige Inhalte, komplizierte Bedienung
Verfügbar seit dem 01.11.2019
Foto: Apple. All rights reserved.
Am 1. November ist Apple TV+ als neuer Dienst auf dem Streaming-Markt gestartet. Die amerikanische Kultmarke bietet allerdings ausschließlich eigene Inhalte. Brauchen wir überhaupt einen weiteren Streamingdienst?
Für viele war der Rückzug von Mitbegründer Steve Jobs aus dem Unternehmen im Jahr 2011 der Anfang vom Ende. Apple tut sich seit dem Tod von Jobs im selben Jahr schwer damit, die kultische Verehrung der Marke mit neuen Innovationen hoch zu halten. Auch wenn Apple mit dem neuen iPhone 11 wieder ein großer Wurf gelungen ist – auch der Smartphone-Markt befindet sich mittlerweile in einer Sättigung, bei der die Konsumenten den schnellen Modellzyklen der Hersteller nicht mehr so richtig folgen mögen.
In der Vergangenheit präsentierte Apple clevererweise nie die Innovation selbst, sondern mit dem iPhone, iPad und der Apple Watch schlichtweg die ultimative und stets fantastisch aussehende Perfektion in der jeweiligen Produktsparte – der Erfolg gab dem Tech-Konzern aus Cupertino lange recht.
Doch nun, Ende 2019, auf den Markt der Videostreamingdienste zu stoßen, mit einer mageren Programmauswahl und dem Fehlen jeglicher magischen Innovationen, die Apple stets definierten – da scheint eine Niederlage fast vorprogrammiert. Die Platzhirsche in Deutschland namens Netflix und Amazon Prime Video starteten hierzulande bereits 2014. Zusammen bieten sie mehr Serien und Filme, als man jemals gucken kann. Das breite Sortiment wird zudem regelmäßig mit alten Klassikern und neuen Eigen- und Fremdproduktionen ergänzt.
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Welche Inhalte gibt es bei Apple TV+?
Neben drei Kinderserien bietet Apple zum Start lediglich eine Dokumentation („Die Elefantenmutter“) und vier Serien, die wöchentlich um eine neue Folge aktualisiert werden (Binge-Watching fällt also erstmal aus). Da wäre die zurecht gelobte Serie „The Morning Show“ (mit Jennifer Aniston, Reese Witherspoon und Steve Carell), die einen sarkastischen Blick hinter die Kulissen einer populären (fiktiven) Nachrichtenshow inklusive #MeToo-Debakel bietet. Die dramatische Astronauten-Serie „For All Mankind“ wartet zwar nicht mit einem dicken Hollywood-Cast, aber mit einer seltsam-schönen Geschichte auf, nach der ein russischer Kosmonaut im Jahr 1969 als erster Mensch den Mond betritt und die Amerikaner kurzerhand ein weibliches Astronautenteam rekrutiert um dieses in den Weltraum zu schicken. „See“ folgt dem schon ein bisschen verhallten Ruf nach mehr „Game Of Thrones“-Äquivalenten. Für Kinder sind u.a. „Snoopy im All“, und die Mystery-Serie „Vier Freunde und die Geisterhand“ am Start. „Oprah Winfreys Book Club“ ist als verfügbarer Inhalt zwar schon im System gespeichert, kann aber noch nicht gestartet werden („Kommt bald“), was angesichts der großspurigen Ankündigung ein bisschen ärgerlich ist.
Brauche ich ein Apple-Gerät dafür?
Der Streamingdienst läuft mit der vorinstallierten Apple TV App auf dem iPhone, iPad und iPod touch, sofern das aktuelle Betriebssystem installiert ist. Es läuft auf der Apple-TV-Box (ab 3. Generation) und auf dem Mac mit macOS Catalina. Die App funktioniert zudem auf ausgewählten Smart-TVs, welche die Apple-TV-App unterstützen (genaue Angaben hier). Mit dem Browser ist der Streamingdienst unter tv.apple.com/de zu finden. Ob es Apple TV+ zukünftig auch im Google Play Store oder für Android TV geben wird, ist derzeit noch nicht bekannt. Auch hier schottet sich Apple wieder in seiner autarken Produktwelt ab – angesichts der starken Konkurrenz ein gewagter Schritt.
Welche Sprachen gibt es?
Die Eigenproduktionen sind in fast 40 Sprachen verfügbar, als Untertitel oder als Synchronfassung. Es gibt auch Untertitel für Gehörlose und Gehörgeschädigte.
Apple TV+: Kosten und Preise im Überblick
Nach einem siebentägigen kostenlosen Probeabo werden im Monatsabo 4,99 Euro fällig. Damit liegt Apple geringfügig unter den Preisen von Amazon Prime Video (69 Euro im Jahr, also 5,75 Euro im Monat als Jahresabo, sonst 7,99 Euro im Monat) und Netflix (7,99 Euro im Monat in SD-, bzw. 11,99 Euro in HD-Qualität oder 15,99 Euro für Ultra HD und vier Endgeräte gleichzeitig). Die beiden Konkurrenten bieten jedoch ein einmonatiges Probeabo und deutlich mehr Inhalte. Immerhin gibt es bei Apple eine „Familienfreigabe-Gruppe“ inklusive, ähnlich dem 4er-Abo von Netflix. Wer als Student ein Apple-Music-Abo laufen hat, bekommt Apple TV+ erfreulicherweise umsonst dazu.
Wie ist die Bildqualität?
Technisch ist Apple mit 4K HDR und Dolby Atmos zwar auf der Höhe der Zeit. Die Menüführung wirkt allerdings sehr statisch und bietet keinen automatischen Übergang von einer Folge zur nächsten, es gibt auch keine Möglichkeit, den Vorspann zu überspringen oder zu sehen, wie viele Folgen einer Serie aktuell verfügbar sind. Da sollte dringend nachgearbeitet werden.
Kommt da noch mehr?
Laut „Variety“ hat sich Apple die Rechte für „Masters Of The Air“, dem Nachfolger von „Band Of Brothers (2001) und „The Pacific“ von 2010 aus den Händen von Steven Spielberg und Tom Hanks gesichert, und plant eine Verfilmung des Bestseller-Romans „Pachinko“ (zu Deutsch: „Ein einfaches Leben“) von Min Jin Lee. Aber das wird momentan niemanden davon überzeugen können, sich neben Netflix und/oder Amazon Prime Video noch ein weiteres Streaming-Abo ans Bein zu binden. Immerhin: Für einen begrenzten Zeitraum schenkt Apple den Käufern eines neuen iPhone, iPad, iPod touch, Apple-TV-Gerät oder eines Mac-Computers ein kostenloses Jahresabo. Bis zum November 2020 sollte sich das Portfolio deutlich erweitert haben – falls Apple so lange durchhält.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht beim Musikexpress 07.11.2019
FILM
Jack Ryan Staffel 2
Geheimagenten gehen immer
Amazon Prime | Verfügbar seit dem 31.10.2019
Foto: Sophie Mutevelian. All rights reserved.
Seit dem 01. November läuft auf Amazon Prime die zweite Staffel der Serie „Jack Ryan“ mit acht Folgen, die wieder lose auf der Romanfigur von Politthriller-Superstar Tom Clancy basiert. Und obwohl darin wieder viel mit schon etwas angestaubtem Agenten-Handwerkszeug jongliert wird, zieht die Story einen schnell hinein in den sehr spannenden Strudel aus Verschwörungen, Machtgehabe und weltumspannender Bösartigkeit, der diesmal in Venezuela tobt. Eine Serienübersicht in fünf Punkten.
Erstens: Jack who?
Wer mit den Büchern von Tom Clancy und filmischen Spionagethrillern gut vertraut ist, der kennt die namensgebende Hauptfigur natürlich schon länger. Jack Ryan kommt in vielen Romanen von Clancy vor, er taucht in „Jagd auf Roter Oktober“ (gespielt von Alec Baldwin) und „Das Kartell“ (gespielt von Harrison Ford) auf, bekam 2014 den ersten Kinofilm unter eigenem Namen „Jack Ryan: Shadow Recruit“ (gespielt von Chris Pine) und kämpft nun als CIA-Analyst, Finanzexperte und Dozent wieder gegen die Schurkenstaaten dieser Welt. Immerhin ist der aktuelle Jack Ryan (gespielt von John Krasinski) zwar ein Ex-U.S.-Marine, sonst aber vornehmlich am Schreibtisch und dem Flipchart aktiv.
Dass er trotzdem Teil der spannenden Action im Geheimagentendasein wird, passiert meist eher so zufällig. Allerdings wirkt der Versuch, Jack Ryan gleichzeitig als harmlosen Analysten und skrupellosen Draufgänger-Agenten in Szene zu setzen auch in der zweiten Staffel nicht überzeugend. Es hübscht die sonst recht blasse private Seite des Agenten ein wenig auf, der schließlich auch Gefühle, Zweifel und Ängste haben darf. Aber letztlich geht es hier ganz profan um spannende, mitunter blutige Action, die keine komplizierte Hauptfigur benötigt, um zu funktionieren.
Zweitens: Besitzt Venezuela Banditen von Weltrang?
Hielten sich die Drehbuchautoren Carlton Cuse („Lost“, „The Strain“) und Graham Roland („Lost“, „Prison Break“) im ersten Teil noch brav an die aktuelle US-Thriller-Faustregel, nach der Schurken überwiegend fanatische Islamisten zu sein haben, verschlägt es Jack Ryan dieses Mal ins südamerikanische Venezuela. Ein Land, in dem Korruption und Armut, aber auch die gigantischen Gold- und Ölvorräte eine Einstufung als „Failed State“ (Gescheiterter Staat) nahelegen, wie es Ryan zu Beginn der Staffel als Dozent vor den angehenden CIA-Agenten ausführt. Was seiner Meinung nach letztlich dazu führen könnte, dass andere Länder wie Russland oder China sich des Landes bemächtigen könnten, um dort Atomraketen (natürlich gegen die USA) zu stationieren. Die Grundidee klingt plausibel, die Konsequenz daraus ziemlich hanebüchen. Eine bequeme Substanzlosigkeit, die sich „Jack Ryan“ aber ja mit den anderen Spionageserien der vergangenen Jahre teilt. Und obwohl der Kalte Krieg mit der Charta von Paris im November 1990 formell beendet wurde, scheint diese Weltanschauung immer noch fest in den Köpfen der Autoren zu existieren, auch weil sie filmisch schön eindimensional umzusetzen ist. Aber die Welt ist komplexer geworden, der Terror vielschichtiger – die Wahl für Venezuela als Drehort und Teil der Handlung ist da beinahe schon eine mutige Abweichung von der Norm.
Foto: Cara Howe/Amazon Studios
Drittens: Ein bisschen Realität muss sein
Keiner kann verlangen, dass die Missstände in Venezuela in einer Actionserie ausreichend vertieft werden, wenn gleichzeitig eine spannende Geschichte erzählt werden muss, bei der das Land dann doch nur stellvertretend für andere korrupte Scheindemokratien als Kulisse dient. Doch der Machtkampf zwischen dem kaltblütigen Präsidenten Nicolás Reyes (überzeugend gespielt von Jordi Mollà) und seiner Herausforderin Gloria Bonalde (Cristina Umaña) bildet nicht nur eine spannende Nebenhandlung, sondern weißt auch über den Vornamen des Präsidenten hinaus einige Parallelen zur Realität auf. Letztlich bieten auch Caracas und der Dschungel am Flussufer des Orinoco optische Abwechslung von den üblichen Drehorten der Agenten-Unterhaltung.
Viertens: Gute Action schert sich nicht um Details
Natürlich darf man bei diesem Genre als Zuschauer nicht zu pedantisch werden und jedes Detail kritisch hinterfragen. Beispielsweise warum der abgeschnittene Finger eines Schurken im Kühlschrank des CIA-Büros in Caracas liegt, wo er doch angeblich zur DNA-Analyse ins amerikanische Langley geschickt wurde. Wieso ein Boot per Fallschirm aus einem US-Flugzeug abgeworfen werden muss, wo es vielleicht auch ein schnelles Boot vor Ort gegeben hätte, mit dem die Geheimagenten den Orinoco hochdüsen können? Vielleicht macht die CIA aber sowas tatsächlich, weil amerikanische Boote eben viel viel besser sind und man den gigantischen Militäretat ja auch irgendwie verprassen muss. Aber solche Fragen sind letztlich irrelevant, weil sie dem Erzählfluss und der Spannung nicht im Weg stehen und sich die zurechtgebogenen Kniffe im Handlungsablauf durchaus in Grenzen halten. Da haben Jack Bauer, Carrie Mathison, Barney Ross oder Sydney Bristow (um nur einige von Ryans filmischen Berufskollegen zu nennen) schon ganz andere Absurditäten wegspielen müssen.
Fünftens: Perfektes Actionmenü mit passablen Beilagen
All diese Bedenken sind aber spätestens nach 20 Minuten verflogen, sobald man sich auf dem Sofa eingekuschelt hat und sich dem dichten Erzählstrang ausliefert. Wir wollten spannende Action mit ein paar cleveren Storytelling-Wendungen, und wir kriegen sie auch. Souverän fette Produktion, gute Schauspieler und eine recht stringente Handlung, die mit acht Folgen die richtige Länge hat, um das Binge-Watching nicht zur Tortur werden zu lassen. Wenn nur bloß nicht das Popcorn immer so schnell alle wäre.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Musikexpress 04.11.2019
FILM
Carnival Row
Die fantastische Flüchtlingskrise im Viktorianischen Zeitalter
Amazon Prime | Verfügbar seit dem 30.08.2019
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Seit dem 30. August gibt es bei Amazon Prime Nachschlag für Fans von spannenden Serien mit Fabelwesen. Eine Kriminalgeschichte, eine Liebesgeschichte, nackte Haut und Splatterszenen gibt es dazu noch obendrauf. Hier sind fünf Gründe, warum das zwar kurzweilige Unterhaltung bietet, aber trotzdem nicht als erfolgreiches Methadon-Programm für echte „Game of Thrones“-Fans reicht.
Erstens: Fantasy-Klischees – Wer hat’s erfunden?
Ja, „Game of Thrones“ muss hier nicht nur zu Anfang nochmal gedroppt werden, weil die Serie schon vor dem Start von „Carnival Row“ einfach zu oft als Benchmark herhalten musste. Der Vergleich liegt natürlich nahe, sobald Elfen, Orks, Satyrn und Werwölfe auftauchen, und neben der „Herr der Ringe“-Trilogie nebst Spin-Offs noch eine Vergleichsmöglichkeit gesucht wird. Andererseits sind Fabelwesen schon seit Jahrhunderten Bestandteil von Schaudermärchen und Sagen und nehmen bei „Carnival Row“ erstmals nicht die Superheldenrolle, sondern eher die der unangepassten Sonderlinge ein, die mit Diskriminierung und offenem Hass zu kämpfen haben.
Zweitens: Darf es auch eine Liebesgeschichte sein?
Die Hauptfiguren in den acht Folgen der ersten Staffel sind der menschliche Kriegsveteran und Polizeiinspektor Rycroft Philostrate (Orlando Bloom) und die aus ihrer Heimat, dem Königreich Anoun vertriebene Fee Vignette Stonemoss (Cara Delevingne). Während Philostrates Heimat The Burgue einem dreckigen Spiegelbild des viktorianischen London ähnelt, triggert Vignettes Heimatland mit dichten Wäldern und Steilen Bergen überdeutlich die Glücksgefühle klassischer Fantasyfans.
Ebendort lernen beide sich während des Krieges kennen, „Philo“ ist Soldat in der Burgue-Armee, Vignette die Behüterin der größten geheimen Bibliothek von Anoun. Inmitten des Kampfes gegen die skrupellose Pakt-Armee entspinnt sich eine kurze Liebesaffäre. Das Zusammentreffen der beiden „vermeintlichen Gegensätze“ wirkt leider arg bemüht, auch Delevingne hölzerne Mimik ist da wenig hilfreich. Neben der Jagd von Inspektor Philostrate auf einen mysteriösen Massenmörder ist diese Liebesgeschichte aber auch einer der zentralen Handlungsstränge der Serie.
Drittens: Oder möchten wir uns doch für ein anderes Format entscheiden?
Der vermeintlich größte Trumpf ist tatsächlich das größte Manko von „Carnival Row“ – zu viele, durchaus perfekt durchkomponierte Set-Designs und Stimmungen konkurrieren hier um die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Pittoreske viktorianische Wohnzimmer treffen auf die verruchten, dunklen Ecken der Sündenmeile Carnival Row, die im nächsten Moment von bedrohlichen Burgmauern im Feenwald abgelöst wird. Verschiedene Einstellungen erinnern wahlweise an „Herr der Ringe“, „Taboo“, „Sherlock Holmes“ oder gar an „Downton Abbey“.
Was man als provokanten Stilmix, oder aber als ziemlich unentschlossene Suche nach einem „Corporate Look“ bezeichnen kann. Und obwohl hier keine vierhundert Adelshäuser in dreihundert verschiedenen Provinzen um die Macht kämpfen wie bei GoT, wirken die Verquickung einer Liebesgesichte, einer übersinnlichen Kriminalgeschichte, eines politischen Machtkampfs verschiedener Völker und die Standeszwiste in der feinen Gesellschaft von The Burgue als Nebenschauplatz doch schnell sehr ermüdend.
Viertens: Startschwierigkeiten und die „Hollywood Blacklist“
Im Gegensatz zu vielen erfolgreichen Streaming-Serien gab es für „Carnival Row“ keine Roman- oder Comicvorlage. Vielmehr gab es nur ein sogenanntes „Spec Script“ namens „A Killing on Carnival Row“ von Autor Travis Beachham („Pacific Rim“), welches es zwar bereits im Jahr 2005 auf die „Hollywood Black List“ schaffte, aber lange bis zur Umsetzung brauchte. Guillermo del Toro hat neben René Echevarria (Star Trek: Deep Space Nine) am Drehbuch für die Pilotfolge mitgeschrieben, die 2016 an Amazon verkauft wurde, zu einer geplanten Zusammenarbeit mit del Toro als Regisseur kam es jedoch nicht. Immerhin hat Amazon nach den acht Folgen der ersten Staffel bereits eine zweite Staffel bestellt, wie deadline.com im Juli berichtete.
Fünftens: Wird der GoT-Fan hiermit trotzdem ein kleines bisschen glücklich?
Der Abstand zu Game of Thrones bleibt in allen Belangen stets sehr groß, dafür gibt es zu viele logische Fehler, seltsam-abgehakte Handlungswendungen und kein stimmiges, einheitliches Erscheinungsbild. Spannend ist „Carnival Row“ aber trotzdem, und liefert noch einige charmante Aspekte. Die in London geborene Cara Delevingne musste sich für ihre Rolle einen irischen Dialekt draufschaffen und auch sonst glänzen hier viele gelungene Dialoge mit dem Reichtum der britischen Sprache.
Zudem schafft es die Serie, diverse aktuelle Diskursthemen aus der realen Welt in die Carnival Row zu verfrachten, etwa die Flüchtlingsproblematik durch die Zuwanderung und Flucht zahlreicher Fabelwesen (hier „Kreas“ genannt), das Auseinanderbrechen von etablierten politischen Strukturen, die Probleme der Integration und die Verschmelzung von Kulturen. Ob das purer Zufall oder gewollte Gesellschaftskritik ist, werden wir dann wohl in der zweiten Staffel erfahren.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht beim Musikexpress 02.09.2019
FILM
The Boys
Wer ist jetzt hier der Superheld?
Amazon Prime | Verfügbar seit dem 26.07.2019
Foto: Amazon Prime / Jan Thijs. All Rights reserved.
Am 26. Juli ist mit „The Boys“ eine neue Superheldenserie auf Amazon Prime angelaufen. Was wenig inspirierend klingt, entpuppt sich als humorvolle und huldigende Persiflage des Genres, gespickt mit reichlich Systemkritik, Dampfplauderei und Splatter-Elementen. Hier sind fünf Gründe, warum wir also doch noch immer nicht ohne Superhelden auskommen (wofür leider sehr oft das Wort „Superhelden“ verwendet werden muss).
1. Die Relativierung des Superhelden-Status erweckt neue Superkräfte
Nachdem unzählige DC– und Marvel-Comics mit Superhelden den Weg auf die Kinoleinwand und zu den Streamingdiensten gefunden haben und die immergleichen Handlungen irgendwann sehr vorhersehbar werden, kann eine neue Perspektive auf das Heldenthema nicht schaden. Die Serie „Powers“ unternahm bereits 2015 den Versuch, mit der Figur Christian Walker einen Superhelden ohne Superkräfte zu etablieren; „The Tick“ wiederum zog die Superhelden-Nummer 2017 mit einem introvertierten Buchhalter als Sidekick ins Absurde.
Die neue Serie „The Boys“ (basierend auf der Comicvorlage von Garth Ennis und Darick Robertson) geht noch einen Schritt weiter und macht die Superhelden zu Popstars mit mehr Nach- als Vorteilen. In der ersten Liga spielen hier die Mitglieder von „The Seven“: Der egomanische Anführer Homelander (Antony Starr) mit seinem grotesken Stars-and-Stripes-Umhang, seine frustrierte Ex-Partnerin Queen Maeve (Dominique McElligott), der schnellste Mann der Welt A-Train (Jessie T. Usher), der mit einem kleinen Suchtproblem kämpft, der sexuell sehr übergriffige The Deep (Chace Crawford), der stumme Black Noir (Nathan Mitchell), der unsichtbare Translucent (Alex Hassell) und die junge Newcomerin Starlight (Erin Moriarty), die immerhin versucht, ein bisschen Female Empowerment in das Superhelden-Business zu bringen.
Selbstverständlich haben sie alle eine besondere Fähigkeit, sind aber gleichzeitig dem Popstar-Klischee näher, als es Superhelden je zuvor waren – mit klassischen Charaktereigenschaften wie Narzissmus, Selbstzweifeln, Zukunftsängsten und generellem Realitätsverlust.
Als A-Train die Freundin des jungen Elektronikverkäufers Hughie Campbell (Jack Quaid) namens Robin auf der Straße überrennt und zerfetzt, nimmt die Geschichte ihren Lauf, in dem die Rolle der Superhelden auf verschiedensten Ebenen grundlegend in Frage gestellt wird.
2. Der ewig größte Bösewicht bleibt der Kapitalismus
In „The Boys“ prallen makellose Fantasiewelt und traurige Realität unsanft, aber mit Absicht aufeinander. Das Superhelden-Business wird nämlich minutiös gesteuert, inszeniert und manipuliert, vom höchsten Wolkenkratzer in New York aus, wo der Multimilliarden-Dollar-Konzern Vought Studios das Geschäft übernommen und zu einer turbokapitalistischen Merchandise- und Eventmaschine degradiert hat. Die Superhelden finden sich in Videospielen, in Blockbuster-Filmen, auf Comic-Conventions, in Freizeitparks, bei christlichen und humanitären Wohltätigkeitsveranstaltungen, auf Twitter und Instagram sowie natürlich auf dutzenden von Merchandise-Produkten wieder. Die Rettung der Menschheit spielt dabei eine untergeordnete Rolle, sofern sie nicht der Gewinnmaximierung dient.
3. Die Superhelden sind die anderen aka The Boys
„The Boys“ – deutlicher kann man den Antihelden-Anspruch wohl kaum betiteln. Denn natürlich muss sich diesen unsympathischen Superhelden jemand entgegenstellen. The
Boys haben eine gemeinsame Vergangenheit als geheime CIA-Einheit und kommen erst zu Beginn der Serie wieder zusammen. Angeführt werden sie vom knurrigen Billy Butcher (gespielt von Karl Urban),
der als Harter-Hund-Charakter für das Gute kämpft und die wahren Absichten und vertuschten Intrigen der Vought Studios ans Licht bringen möchte. Weiterhin gibt es den charismatischen,
freiberuflichen Waffenhändler und Franzosen Frenchie (Tomer Kapon) und den warmherzigen Hünen Mother’s Milk (Laz Alonso), der vor der Wiederbelebung der Einheit als Betreuer von straffälligen
Jugendlichen tätig ist. Der volle Sympathiebonus muss aber wohl an den unfreiwilligen Neuzugang Hughie gehen, der mit seiner jugendlichen Naivität, seiner Wut über die Tötung seiner Freundin
durch einen „Supe“ (so werden die Superhelden hier umgangssprachlich genannt) und mit unerwartet hilfreichen Elektrotechnik-Kenntnissen das Team bereichert. Natürlich ist er auch derjenige, der
die jugendliche Superheldenverehrung verkörpert, die Coming-Of-Age-Komponente, die sich auf einmal mit einer doppelmoralischen Realität konfrontiert sieht.
Jan Thijs 2019 Amazon.com Inc.
4. Wo kommt denn plötzlich der ganze Dreck her?
Nicht nur das ein oder andere Blutbad in schmuddeligen, leerstehenden Taco-Restaurantküchen hinterlässt seine Spuren – das Paralleluniversum dieser Serie ist grundsätzlich sehr schmutzig, auch ganz ohne Metaphern. Die Straßen von New York sind hier durchzogen von Müll und umherfliegenden Fastfood-Verpackungen, wenn Hughie Campbell kurz seinen Vater besucht, stechen einem die vergilbt-krustigen, ehemals weißen Türrahmen beinahe ins Auge. Ist die Hollywood-Welt sonst tatsächlich immer so besenrein und sauber, dass einem solche Details hier sofort auffallen?
Wen ein solcher Serien-Look kalt lässt, der wird sicher auch über einige detaillierte Splatter-Szenen hinwegsehen, die im Superhelden-Kosmos in dieser Deutlichkeit bisher keinen Platz fanden. Gedärme, Blut und abgetrennte Körperteile gehören in „The Boys“ öfter mal zur Grundausstattung des Set-Dekors. Das mögen einige Zuschauer als überflüssig oder provokant empfinden, aber eigentlich gehört diese Bildgewalt längst zum filmischen Alltag. Sie unterstreicht zudem einmal mehr, dass die Superheldenromantik von „Superman“ oder den „Avengers“ eine modernere, schonungslosere und oftmals auch realistischere Gegenseite braucht.
5. Popkultur, Musik und Eric Kripke
Den Autoren Evan Goldberg, Seth Rogen und Eric Kripke sowie einem wechselnden Team von weiblichen und männlichen Regisseuren und Drehbuchautoren ist es zu verdanken, dass hier eine spannende, manchmal blutrünstige, aber immer sehr humorvolle Serie entstanden ist, die voller liebevoller Popkultur-Querverweise steckt. Während Goldberg und Rogen als Drehbuchautoren für „The Green Hornet“ bereits Superhelden-Erfahrung sammeln durften und mit „Preacher“ bereits einen Comic von Garth Ennis als Serie aufbereitet haben, ist es wohl vor allem die klamaukige und zugleich ehrerbietende Handschrift von Eric Kripke, die man in zahlreichen Momenten wiederzuerkennen glaubt.
Auf ähnliche Art wie in der Geisterjäger-Serie „Supernatural“ (für die er seit 2005 als Autor, Produzent und Regisseur tätig ist) mischt er Fankult mit Fachwissen, was nicht nur „Downton Abbey“ und den Spice Girls eine kurze Abhandlung innerhalb der Serie beschert. Natürlich ist Antiheld Hughie großer Fan von Schmusesänger Billy Joel, hat aber auch ein Poster der Ramones und des CBGB im ehemaligen Kinderzimmer hängen. Einen albernen Lacher ist auch der Rick-Astley-Klingelton von Mother’s Milk wert.
Und statt der Hairmetal-Huldigungen von „Supernatural“ dürfen diesmal räudige Punkgitarren den Soundtrack aufmischen, The Damned, The Clash, Iggy Pop und Jane’s Addiction untermalen hier die Tatsache, dass nicht immer diejenigen die Superhelden sind, die sich freigiebig als solche ins Rampenlicht drängeln.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht beim Musikexpress 28.07.2019
FILM
NOS4A2
Wie das Horror-Genre es in die Neuzeit geschafft hat
Amazon Prime | Verfügbar seit dem 07.06.2019
Ab dem 7. Juni schickt AMC auf Amazon Prime eine neue Serie ins Rennen. Dabei orientiert sich „NOS4A2“ (gesprochen: Nosferatu) zwar an klassischen Horrorfilm-Spannungsbögen, kann diese aber über die Länge von zehn Episoden deutlich tiefgehender und damit gehaltvoller erzählen.
Der Horrorfilm-Fan will es dem jungen Daniel Moore (Asher Miles Fallica) in der ersten Folge noch hinterherrufen: Sammle nicht die rot-weiß-gestreifte Zuckerstange vor der Tür auf! Steig nicht in den alte Rolls-Royce Wraith (dessen Name im Englischen „Geist“ oder „Gespenst“ bedeutet) aus den 1930er-Jahren ein, der mit bunten Geschenken lockt und gleichzeitig mit einem gruseligen, alten Fahrer namens Charlie Manx (Zachary Quinto) verstört! Und auch die Hauptfigur Vic McQueen (Ashleigh Cummings) möchte man vorab warnen, bevor sie mit ihrem Cross-Motorrad auf die düstere alte Holzbrücke fährt: Das sieht doch total unheimlich aus, das kann niemals gut ausgehen!
Die amerikanische Kleinstadt Haverhill, in der die neue Amazon-Prime-Serie „NOS4A2“ spielt, wird von den üblichen traurigen Begleiterscheinungen wie Klassenkampf, Perspektivlosigkeit und provinzieller Einöde dominiert. Hier leben Figuren wie der junge Daniel und die clevere Vic, die von einem Stipendium für eine Kunsthochschule träumt, weil sich ihr Lebensweg sonst schnell und vorzeitig dem ihrer Mutter annähern könnte, als Putzfrau für die Besserverdiener im Villenviertel.
Doch da ist auch der unsterbliche Charlie Manx, der sich von Kinderseelen ernährt und die Überreste im Christmasland entsorgt – einem seltsamen Ort in seiner Fantasie, an dem jeden Tag Weihnachten ist und wo Traurigkeit gegen das Gesetz verstößt. Wie gut, dass Vic nicht nur künstlerisches Talent besitzt, sondern auch mit der übernatürlichen Fähigkeit gesegnet ist, verlorene Dinge wieder aufzuspüren. Schnell wird klar, dass nur sie, gemeinsam mit dem Medium Maggie Leigh (gespielt von Jahkara J. Smith, bekannt als Youtuberin „Sailor J.“) den Kampf gegen den Endgegner Manx aufnehmen kann.
Dem Genre „Horror“ bleibt die Serie zumindest in den offensichtlichen Momenten treu. Auch in dieser Geschichte käme niemand auf die Idee, in einem leerstehenden Spukhaus beim Betreten erst einmal den Lichtschalter auszuprobieren. Aber was früher anderthalbstündige Filme mit eventuellen Sequels waren, sind heute die Streaming-Serien, die in ihrer Komplexität ein deutlich größeres Themenfeld abhandeln dürfen, mit verschiedenen Handlungssträngen, Spin-Offs innerhalb der Serie und einer zentralen Rahmenhandlung, die innerhalb einer Staffel in mehrere kleinere Episodenhandlungen unterteilt wird.
Was für „NOS4A2“ überaus hilfreich ist, wird hier doch einiges an Klischee-Ballast abgeworfen, der zuvor für Horrorfilme und Serien unverzichtbar schien. Produziert wurde der Zehnteiler von den amerikanischen AMC Studios, die schon mit „The Walking Dead“ und „Fear The Walking Dead“ die gruselige Abendunterhaltung auf eine zeitgemäße, neue Ebene gehievt haben.
Executive Producerin und Autorin Jami O’Brien („Fear the Walking Dead“, „Hell on Wheels“) hat es geschafft, die anspruchsvoll-komplexe Vielschichtigkeit von aktuellen Streaming-Serien mit klassischer Horror-Spannung zu vereinen. Als Basis diente übrigens der Horror-Roman „Christmasland“ von Joe Hill (englischer Originaltitel: „NOS4A2“). Hill ist neben Lauren Corraro (Comedy Central) als weiterer Executive Producer an der Serie beteiligt.
Besonders gelungen sind hier die vermeintlich alltäglichen Nebenaspekte, die Suche der Polizei nach dem verschwundenen Daniel Moore, die Tatsache, dass Maggie Leigh, mit ihrem prophezeienden Beutel voller Scrabble-Buchstaben, sich der Absurdität ihrer Gabe durchaus bewusst ist. Genauso wie es Vic sofort seltsam vorkommt (Achtung: Spoiler!), dass die seltsame Brücke, die sie inmitten des dichten Waldes per Zufall entdeckt, angeblich seit Jahren nicht mehr existiert. Diese Grundlagen der Horror-Erzählung werden nicht als gegeben hingenommen, sondern müssen sich in einem alltäglichen Kontext auf Glaubwürdigkeit überprüfen lassen – was darauf hoffen lässt, dass diesen kurzweiligen Teilen schnell eine zweite Staffel folgen darf.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht beim Musikexpress
07.06.2019
FILM
Sneaky Pete (Staffel 3)
Darum hat die Ganoven-Serie eine dritte Staffel verdient
Amazon Prime | Verfügbar seit dem 03.05.2019
Seit dem 10. Mai läuft die dritte Staffel von „Sneaky Pete“ auf Amazon Prime. Hier sind fünf Beispiele, warum auch diese Staffel wieder einen sehenswerten
Mix aus Spannung, Drama, Selbstreflexion und der Huldigung des ehrenhaften Taschenspieler-Gewerbes bietet. Achtung, Spoiler!
1. Wer ist Marius Josipovic, ohne sein kriminelles Ich?
Diese Frage stellt sein Bewährungshelfer James Bagwell (Malcom-Jamal Warner) direkt zu Beginn der dritten Staffel und äußert damit eine echte Grundsatzfrage. Immerhin zwei Staffeln haben wir Darsteller Giovanni Ribisi als den falschen Pete Murphy erleben dürfen, zum Ende der zweiten Staffel entdeckten einige seiner vermeintlichen Verwandten, dass er in Wirklichkeit Petes Ex-Zellenkumpel Marius Josipovic ist. Aber der möchte sein eigenes, angeborenes Ich selbst lieber nicht kennen-lernen und fühlt sich in der Rolle des „neuen“ Pete längst viel wohler. Ungewöhnlicher Twist dabei: Die Serie wurde zwei Staffeln lang von einem großartigen Hauptdarsteller getragen, über dessen Figur wir nur wissen, dass sie sich sehr geschickt als eine andere Figur ausgeben kann. Das unterstreicht vielleicht auch den sehr schmalen Grat zwischen Wahrheit und Fiktion – zumindest solange eine gute und glaubwürdige Geschichte dahintersteckt. Die neuen Kleider des Kaisers, einst ersonnen vom dänischen Schriftsteller Hans Christan Andersen, kommen eben irgendwie nie „out of fashion“.
2. Home is where the heart is
Getrieben von der Angst vor Gangsterboss Vince Lonigan (Bryan Cranston) hat sich Josipovic anfänglich nur unter Petes Namen bei dessen Großeltern in Bridgeport, Connecticut eingeschlichen, weil er während der gemeinsamen Zellenzeit so viel Details über Petes Familie erfuhr, dass die Maskerade eine sichere Sache schien. Was für ein Glück, dass Opa und Oma ihren Enkel so lange nicht mehr gesehen hatten und die Täuschung nicht bemerkten. In der dritten Staffel wird wieder deutlich, wie sehr ihm die längst gar nicht mehr fremde Familie, und auch das abgelegene, hübsche und gepflegte Farmhaus der Großeltern Otto (Pete Gerety) und Audrey Bernhardt (Margo Martindale) ans Herz gewachsen sind. Hier findet er die nie aktiv herbeigesehnte, kleinstädtische Idylle, die zwar zu keiner Zeit der harten Realität entspricht (die Großeltern betreiben ein Kautionsbüro in dem es mitunter auch wild zugeht), aber deren schöner Schein von allen dort verkehrenden Familienmitgliedern aufrecht erhalten wird. Was angesichts der idyllischen Lage, direkt an einem See, unterstützt durch klischee-schwere Landleben-Details wie dem Weidekorb voll mit knackigen, roten Äpfeln auch nicht so schwerfällt. Umso größer sind die Verlustängste, als ihn Cousine Julia (Marin Ireland) am Anfang der dritten Staffel wutentbrannt vom Grundstück jagt, weil sie hinter seine wahre Identität gekommen ist.
3. Heute schon nicht die Wahrheit gesagt?
Statistisch gesehen lügt jeder Mensch mehrmals am Tag. Erst im Januar 2019 durch eine Metastudie zum Thema Unehrlichkeit des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und dem „Technion – Israel Institute of Technology“ frisch untermauert. Sie trugen 565 Einzelstudien mit 44.050 Probanden zusammen und bestätigen, dass der Mensch nicht nur gegenüber anderen Mitmenschen lügt, um sich Vorteile zu verschaffen, sondern sich auch durchaus mal selbst betrügt. Das kann mit Höflichkeit und Bequemlichkeit zu tun haben, oder mit der Angst, dass die eigene Unsicherheit in bestimmten Situationen auffällt. Es steckt also nicht immer Vorsatz dahinter.
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Von diesen empirischen Fakten wissen die Protagonisten bei „Sneaky Pete“ natürlich nichts, sie haben das Lügen und Erfinden von alternativen Fakten zur neuen Kunstform erhoben. Denn nicht nur Marius muss für seine Doppel-Identität ständig neue Details erfinden oder umdeuten, auch die Familie des echten Pete verstrickt sich stets wieder in unvorteilhafte Situationen, aus denen nur die Lüge ein (vorläufiges) Entkommen zu bieten scheint. Das macht die Serie nicht nur spannend, sondern mitunter auch reichlich komplex – zum Glück sind clevere Formate, die den Zuschauer geistig ein wenig herausfordern, derzeit total angesagt.
4. Steht mir dieser Trenchcoat?
Klassischerweise ist ein speckiger, beigefarbener Trenchcoat ja der Umhang des ikonischen amerikanischen Kriminalbeamten, etwas behäbig, nachsichtig, am Ende aber immer total korrekt. Wir erinnern mal kurz an Inspector Gadget, Detective Mike Stone (die legendäre Rolle von Karl Malden in der Fernsehserie „Die Straßen von San Francisco“) oder Inspector Columbo (gespielt von Peter Falk in der gleichnamigen Serie, die gefühlt seit 1968 im Privatfernsehen in Dauer-Wiederholung läuft). Auch in der dritten Staffel trägt Julius den etwas moderner geschneiderten Kurzmantel (von dem es im Kostümfundus anscheinend ein grünes und ein blaues Exemplar gibt), den der Brite natürlich als „Mac“ für sich reklamieren würde. Gute Tarnung, die vielleicht der Tatsache geschuldet ist, dass dieses Outfit bei Amerikanern automatisch Vertrauen generiert, weil es unterbewusst immer mit einer ganzen Reihe von berühmten Fernseh-Polizisten assoziiert wird? Wer die Wirkung im nächsten US-Urlaub einmal ausprobieren möchte, diverse Threads bei reddit.com befassen sich mit der Frage, welches konkrete Modell Giovanni Ribisi da wohl von der Kostümabteilung verpasst bekommen hat.
5. Kleinkriminelle waren schon immer die charmanteren Verbrecher
Marius ist nicht nur mit allen Wassern gewaschen und kann sich spontan in jede Situation einfühlen (z.B. ohne Bargeld und Kreditkarte Juwelen im Wert von über 5.000 Dollar bezahlen), er hat auch einige sehr gute Taschenspielertricks auf Lager, die er zwischendurch seinen „Azubis“ Gina (Jasmine Carmichael) und Tate (Max Darwin) mit beiläufiger Souveränität beibringt. Zwar geht es in Staffel zwei letztlich doch um einen großen Coup, dessen stilistische Anbiederei bei der legendären „Oceans“-Reihe etwas bemüht wirkt, aber die wahre Sympathie sammelt Marius mit den kurzen Momenten, in denen sein Rollenspiel als waschechter und ehrenhafter Ganove der alten Schule Fahrt aufnimmt. Ohnehin hegt man schnell Sympathie für den smarten wie unaufdringlichen Marius/Pete, gepaart mit ein bisschen Mitleid – eben genau der unwiderstehliche Charme, den ein Weltklasse-Ganove vermitteln sollte.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht beim Musikexpress 10.05.2019
FILM
Star Trek Discovery
Aus diesen Gründen ist die Serie so gut
Netflix | Verfügbar seit dem 18.01.2019
Seit Januar läuft die zweite Staffel von „Star Trek: Discovery“ im wöchentlichen Turnus auf Netflix. Hier sind fünf Gründe, warum der neueste Serien-Spin-Off des Star „Trek“-Kosmos‘ eine schöne Abwechslung vom üblichen Binge-Watching darstellt.
Erstens: Unsere Gegenwart nähert sich der „Star Trek“-Utopie an
Was im Jahr 1966, als die erste Folge der Serie „Raumschiff Enterprise“ in den USA ausgestrahlt wurde, noch unvorstellbar schien, ist in der Wirklichkeit von 2019 längst zum Alltag geworden. Smartphone, Videotelefonie, Online-Datenbanken – das Internet und die Digitalisierung haben uns der Science-Fiction-Welt ein Stück nähergebracht. Trotzdem sieht die Touchscreen-Bedienoberfläche eines Tablets heute moderner aus, als die Konsolen im Transporter-Raum des Raumschiffs Discovery. Aber schließlich spielt diese Serie auch im Jahr 2256, also neun Jahre vor den Geschehnissen des legendären (und ersten) Raumschiff Enterprise, da ist ein bisschen Retro-Look vielleicht angesagt. So sei es auch verziehen, dass der Kommunikator mittlerweile an das legendäre wie vergessene Motorola RAZR-Klapphandy erinnert. Dass es in 237 Jahren allerdings immer noch Beatles-Coverbands gibt (erwähnt von Lieutentant Commander Paul Stamets, gespielt von Anthony Rapp) und Elon Musk ein Name ist, der technisch-anerkennende Assoziationen weckt, scheint eher dem Fanboy-Tum einiger Drehbuchautoren geschuldet.
Zweitens: Es wird wirklich Klingonisch gesprochen
Will man den Nerd-Status der „Trekkies“ unterstreichen, reicht es meist schon, zu erwähnen, dass ihre Serie mit Klingonisch eine eigene Sprach hervorgebracht hat, zu der es ein Wörterbuch, Sprachwissenschaftler, Übersetzer und sogar Sprachkurse gibt. Klingonisch hat es natürlich auch in „The Big Bang Theory“ geschafft, taucht bei den Simpsons auf und wird in einigen Folgen der „Star Trek“-Fernsehserien, sowie in den Kinofilmen gesprochen. „Star Trek: Discovery“ ist allerdings die erste Serie, die wirklich lange Dialoge auf Klingonisch (mit Untertiteln) beinhaltet. Um diese Tatsache (albern oder mit vollem ernst) auf die Spitze zu treiben, gibt es sogar einen Serien-Trailer auf Klingonisch und Klingonisch untertitel!
Bereits 1984 wurde die Fantasiesprache vom US-Sprachwissenschaftler Marc Okrand im Auftrag von Paramount entwickelt. Mittlerweile gibt es ein „Klingon Language Institute“ (KLI) und das Wörterbuch „The Klingon Dictionary“. Laut startrek.com haben die Klingonen-Darsteller Mary Chieffo (L’Rell) und Kenneth Mitchell (Kol) mit der Klingonisch-Expertin Robyn Stewart die Sprache rudimentär erlernt. Bei den dreistündigen Schmink-Marathons lernten sie alle Wörter ihrer Dialoge für „Star Trek: Discovery“ zu lesen und zu sprechen.
Drittens: Die Rückkehr zu alten Werten
In Zeiten von Binge-Watching, den beinahe unendlichen Weiten im Serien-Streaming-Universum und dem nahenden Ende der „Lindenstraße“ hat die Parallelwelt von „Star Trek“ beinahe etwas Beschauliches. Worte wie „Photonentorpedo“, „Warp-Antrieb“ oder „Replikator“ dürfen durchaus dem allgemeinen Sprachgebrauch zugerechnet werden, auch wenn sie wahrscheinlich erst in ferner Zukunft oder überhaupt niemals Realität werden. Ein bisschen was hat jeder wohl in den vergangenen fünfzig Jahren von „Star Trek“ aufgeschnappt. Und wer sich völlig jungfräulich an die zweite Staffel von „Star Trek: Discovery“heranwagt, kommt auch zurecht, ohne ironische Querverweise zu früheren Serien oder Figuren, oder die tatsächlich relativ gut fundierten technischen Ausführungen verstehen zu müssen. Es braucht also keinen Bachelor-Abschluss der Königshäuser- und Fabelwesenkunde wie bei „Game Of Thrones“, um dem Geschehen zu folgen. Und es ist auch nicht nötig, sich wie bei einer weiteren Blockbuster-Serie „The Walking Dead“ oder dem doch recht ähnlichen Spin-Off „Fear The Walking Dead“ durch handschriftliche Notizen zu wühlen, welcher Charakter sich jetzt gerade wo im Serienuniversum aufhält, schon tot ist, oder nur als „ derzeit verschollen“ in den Schauspieler-Trailer zurückgeschickt wurde. Hat da irgendjemand gerade panisch wie verzweifelt „Lost“ gerufen?
Immerhin zeigt Star Trek Discovery eine dezente Modernisierung bei der Interaktion der Charaktere – die blasse wie hölzerne Perfektion von Picard, Data oder Captain Kathryn Janeway ist deutlich
mehr Menschlichkeit und Individualität gewichen.
Viertens: Die Effekte sind geil! Aber darum geht es gar nicht
Klar, die Visual Effects sind auch bei „Star Trek: Discovery“ auf der Höhe der Zeit. Das Make-Up ist besser, die Latex-Applikationen, die zum Beispiel aus Schauspieler Doug Jones Commander Saru machen (der zur Spezies der Kelpianer gehört) sehen längst nicht mehr aus wie aus dem Bastelfundus der lokalen Theatergruppe. Wichtiger ist bei „Star Trek“ jedoch immer die zwischenmenschliche, oder zwischenlebewesentliche Komponente. Der Austausch mit fremden Kulturen, Figuren, ihren Eigenarten und überragenden Eigenschaften. Was im Laufe der Produktionszeit von Star Trek (vor allem zu „Star Trek – Das nächste Jahrhundert“-Zeiten) öfter mal an recht eindimensionalen Charakteren krankte.
Aber ohne Vorurteile und Aufgeschlossenheit gegenüber dem Unbekannten kann man schlecht den Weltraum erkunden. Dieser Grundgedanke ist auch bei „Discovery“ noch relevant, hat aber ebenfalls einige Updates erfahren. Der hellhäutiger Klingone Voq (Shazad Latif, unter dem Pseudonym Javid Iqbal) gilt im Universum des Jahres 2256 als Außenseiter und thematisiert einen anscheinend immer noch präsenten Rassismus, während sich auch Commander/Specialist Michale Burnham (gespielt von Sonequa Martin-Green) als bei den Vulkaniern aufgewachsener Mensch mit stetigen Herabwürdigungen konfrontiert sieht.
Die Unterschiede verschiedener Spezies wurden zwar auch schon zu Zeiten von Spock und Captain Kirk politisch-korrekt thematisiert, aber die damit oft verbundene Intoleranz und Angst werden bei Discovery deutlich stärker gewichtet. Und mit dem Astromykologen Paul Stamets taucht laut memory-alpha.fandom.com zum ersten Mal ein offen homosexueller, menschlicher Charakter bei Star Trek auf – das hat zugegebenermaßen selbst für amerikanische Verhältnisse ziemlich lange gedauert.
Abgesehen davon kann das Produktionsteam auf beinahe 60 Jahre Material zurückgreifen, die das „Star Trek“-Universum beschreiben: unzählige Spezies, Figuren und Sonnensysteme, die in „Discovery“ tatsächlich sehr direkt und kreativ gemischt werden. Kaum eine Fernsehserie (inklusive der zugehörigen Kinofilme) hat einen derart opulenten Informationskosmos um sich herum geschaffen, von Fans und Filmemachern gleichermaßen gefüttert.
So kann sich jeder Fan bei den zugehörigen „Star Trek“-Conventions dank Youtube-Tutorials mit Detailverliebtheit in einen Romulaner oder einen Cardassianer zu verwandeln. Inklusive eines zugehörigen Kompendiums mit der Geschichte, den ethischen Grundsätzen, technischen Errungenschaften und kulturellen Eigenheiten der jeweiligen Völker von fremden Planeten. Ein Klingone würde sagen: jLwuQ!
Fünftens: Endlich richtige Schauspieler!
Es ist ja nicht so, dass in den älteren Spin-Offs wie „Voyager“, „Deep Space Nine“ oder den diversen Enterprise-Episoden nicht anständig geschauspielert wurde. Aber meist waren die Darsteller bis weit in die 2000er-Jahre hinein vor allem für ihre Rollen im Star-Trek-Universum bekannt, vielleicht einmal von Colm Meaney (Miles O’Brien in Deep Space Nine) abgesehen. Sofern sie anderweitig (und nicht auf der Theaterbühne) schauspielerisch aktiv waren, basierten Erfolg und Bekanntheit meist auf der Rolle bei „Star Trek“.
Erst mit Schauspielerin wie Zachary Quinto (seit 2009 als Spock-Darsteller dabei), Chris Pine (James Kirk, z.B. im Star Trek-Film „Beyond“ von 2016) oder Whoopi Goldberg (Guinan in „Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert“) kamen bereits bekannte Darsteller zur Serie. Was wohl auch durch die veränderten Sehgewohnheiten in Zeiten des Internet und der Streaming-Dienste beeinflusst wurde. Eine größere Anzahl von Schauspielern, die eine sehr viel größere Anzahl von Serien und Filmen bedienen muss.
Bei „Star Trek: Discovery“ geht es vom Start weg eine Nummer größer: Sonequa Martin-Green (als Michael Burnham) war vorher immerhin schon bei „The Walking Dead“ dabei, Jason Isaacs (Captain Lorca) ist als Lucious Malfoy in der Harry Potter-Filmreihe zu sehen, Anson Mount (Captain Christopher Pike) ist mit der Serie „Hell on Wheels“ bekannt geworden.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht beim Musikexpress 01.02.2019