"Ich mochte den Underdog immer mehr als den Prinzen"
Sie hat offenbar keine Lust mehr auf viersprachige Texte, verkopfte Band-Arrangements und die Rolle als ewiger Liebling des Feuilletons. Die in der Schweiz geborene Sophie Hunger hat sich vom intellektuellen Korsett des Folk-Jazz befreit und ließ ihren deutschen Wohnsitz Berlin beim neuen Sound miteinfließen. Herausgekommen ist mit "Molecules" ein modernes, abwechslungsreiches und fast ausschließlich englischsprachiges Album mit vielen Einflüssen der elektronischen Musik. Was die 35-Jährige an der deutschen Hauptstadt schätzt, was Deutsche von Schweizern lernen können und wie sie auf ihrer neuen Tour gegen "diese ewige Effizienz" ankämpft, verrät sie im Interview.
"Molecules" stellt eine deutliche Abkehr vom Sound früherer Alben dar. Wie viel hat dieser Stilwechsel mit dem Berliner Nachtleben und tollen DJ-Sets zu tun?
Sophie Hunger: Er hat viel damit zu tun. Aber auch damit, dass ich ein Album machen wollte, welches ich alleine am Computer schreiben konnte. Zum ersten Mal habe ich einen Plan gemacht und mir Regeln auferlegt. Drumcomputer, Synthesizer, Stimme und akustische Gitarre waren die vier Elemente, mit denen ich ausschließlich arbeiten wollte. Zudem sollten alle Texte auf Englisch sein, und ich wollte das Album ohne eine Band einspielen.
Hatten Sie das Gefühl, dass Mitmusiker Sie irgendwie behindern?
Bei einer festen Band gibt es ja eine eigene Dynamik, man bekommt immer sofort eine Reaktion auf alles, was man macht. Deswegen war es wichtig, erst einmal alleine am Computer zu arbeiten.
Obwohl für Ihre kommende Tour schon einige Konzerttermine ausverkauft sind: Glauben Sie, dass die Mehrheit Ihrer Fans dem neuen Sound folgen wird?
Es ist natürlich sehr schön, dass die Leute mir erst mal blind vertrauen! Aber gerade bei dem Publikum, das von Anfang an dabei war, als ich noch viele Jazz-Einflüsse verarbeitet habe, bin ich mir nicht sicher, ob sie dem jetzt noch folgen wollen. Ich versuche jedenfalls, mich mental darauf vorzubereiten, dass einige Fans enttäuscht sind. Aber meinen Gelüsten zu folgen, das ist letztlich der einzige Weg nach vorne.
Sie haben als Diplomatentochter an vielen verschiedenen Orten gelebt. In einem Interview haben Sie dazu einmal erklärt: "Die Idee vom Sesshaft-Werden kriege ich nicht hin." Ist ihr Wohnort Berlin dann also auch bald wieder Geschichte?
Das Problem habe ich mittlerweile gelöst, weil ich drei verschiedene Wohnorte habe! Neben Berlin habe ich auch noch eine Wohnung in Paris und eine in Zürich. In diesem Dreieck bewege ich mich jetzt schon längere Zeit.
Fotos: Marikel Lahana / Universal
Für Berlin haben Sie mit "Electropolis" eine Hymne komponiert. Faszinieren Sie die herben Kontraste der Stadt, oder kann Berlin es in Sachen Schönheit doch mit Städten wie Paris und Zürich aufnehmen?
An Schönheit vielleicht schon. Aber nicht, was die Raffiniertheit betrifft (lacht)! Es gibt deutliche Unterschiede beim Essen und bei der Mode. Und auch die Gesellschaftsstruktur unterscheidet sich, es gibt in Berlin ein viel stärkeres Bürgertum, würde ich sagen. Die Stadt wird oberflächlich betrachtet nicht so stark vom Geld dominiert.
Das heißt, Ihre drei Wohnorte bilden den richtigen Mix, um genug kreativen Input zu sammeln?
Ja, total! Und ich mochte den Underdog immer mehr als den Prinzen.
In "Electropolis" heißt es: "In Deinen Sünden Trost zu finden. Berlin du deutsches Zauberwort." Glauben Sie, die Deutschen haben ein anderes Verhältnis zu ihrer Hauptstadt als beispielsweise die Engländer oder Franzosen?
Ja. Vor allem natürlich, weil es noch gar nicht so lange das Zentrum von Deutschland ist und die Stadt auf eine spezielle Art das ambivalente Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg repräsentiert. Danach wurde Berlin geprägt von zwei unterschiedlichen Systemen, im Osten und im Westen. Deswegen ist es schon eine einzigartige Hauptstadt.
Berlin hin oder her: Eine auffällige Neuerung auf "Molecules" ist die Tatsache, dass das Album fast ausschließlich englische Texte enthält. Kapitulieren Sie vor der Vorherrschaft der englischen Sprache in der Pop-Musik?
Ich wusste, dass ich mich dem irgendwann stellen muss. Jetzt kann ich mich nicht mehr mit dem Einwand herausreden, dass man meine Musik gar nicht mit anderer englischsprachiger Popmusik vergleichen kann, weil ich ja noch Französisch und Deutsch singe. Und wenn sie mich jetzt in englischsprachigen Ländern immer noch ignorieren, dann bedeutet das etwas, oder (lacht)?
Ein paar nicht-englische Sprachfetzen sind aber doch noch übriggeblieben, "Electropolis" hat eine deutsche Zeile, "Cou Cou" hat einige französische Parts ...
Ja, ganz geschafft habe ich es dann doch nicht. Am Ende wollte ich einfach hier und da noch eine weitere Fährte auslegen, weil ich das Gefühl hatte, dass es sonst nicht ganz mir als Künstlerin entspricht. Aber es sollten nur kurze Momente sein!
War die Zusammenarbeit als Gastsängerin auf Steven Wilsons Song "Song Of I" ein kleiner Wegweiser hin zum Sound von "Molecules"?
Ja, im Nachhinein bildet das natürlich eine schöne Brücke. Aber in dem Moment, als ich die Einladung bekam, habe ich daran überhaupt nicht gedacht und war im Kopf auch noch nicht am neuen Album dran. Es ist trotzdem lustig, wie sich das im Nachhinein zusammenfügt, es war vielleicht so etwas wie eine Vorspeise.
Sie haben auch schon Duette mit Max Herre und dem Ex-Fußballprofi Eric Cantona gesungen. Werden Sie immer angefragt, oder suchen Sie selbst auch mal Partner aus?
Die Zusammenarbeit mit Eric für "La Chanson D'Helene" war meine Idee, das Original stammt von Michel Picolli und Romy Schneider. Die Zusammenarbeit mit Max wurde von ihm initiiert. Damit schloss sich für mich ein Kreis, weil ich als 15-Jährige die ganze Zeit Freundeskreis gehört habe und Joy (Denalane, Max Herres Ehefrau, d. Red.) für mich ein Idol war.
Bei Ihrer neuen Tour spielen Sie in einigen Städten mehrere Konzerte hintereinander, aber an verschiedenen Konzertorten. Warum?
Weil es viel lustiger ist! Außerdem wollte ich, dass wir möglichst viele Auftritte spielen, weil wir eine neue Band mit neuen Musikern sind. Und der dritte Grund ist vielleicht ein etwas philosophischer: dass man einen gewissen Widerstand gegen diese ewige Effizienz leisten muss. Aber natürlich ist es auch eine megadumme Idee! Wir hoffen, dass die Leute mitkommen und das auch lustig finden.
Bei einem früheren Konzert in Köln haben Sie einmal vom Kauf einer Bassgitarre der deutschen Firma Hofner berichtet in der Hoffnung, dass es das Publikum stolz macht. Stattdessen war es totenstill. Sind die Schweizer unverkrampfter im Umgang mit ihrer nationalen Identität?
Die rechte Schweizerische Volkspartei SVP hat mal eine Zeit lang versucht, das Schweizerkreuz für sich zu vereinnahmen, hat es aber letztlich nicht geschafft. Man kann also auch jetzt noch eine Schweizerkreuz-Fahne aufhängen und wird deswegen nicht sofort als rechtsradikal eingestuft. Die AfD versucht das gleiche in Deutschland mit der Deutschlandfahne - ich kenne diese Spiele aus der Schweiz.
Hingen zuletzt während der Fußball-WM denn auch überall Fahnen in den Vorgärten in der Schweiz?
Ja, aber das sagt eben nichts darüber aus, was man politisch denkt. Das ist das deutsche Problem: dass die Fahne mit falschen Werten besetzt ist. Es wäre gut, wenn man dabei nicht denkt, dass jeder, der eine Deutschlandfahne schwenkt, ganz bestimmt ein AfD-Wähler ist. Aber solch ein Stigma für immer verschwinden zu lassen, das erfordert viel Arbeit.
[Klaas Tigchelaar]
Das Interview wurde im Juli 2018 geführt und erschien u.a. bei msn Unterhaltung.
"Die ersten Male im Leben werden immer weniger."
Anfang 2018 hat Thorsten Nagelschmidt seinen vierten Roman „Der Abfall der Herzen“ veröffentlicht, der abwechselnd im Jahr 1999 und 2015 spielt. Basierend auf alten Tagebuchein-trägen rekonstruiert die Haupt-figur Nagel sein Leben als 23-Jähriger in der Kleinstadt Rheine und geht 16 Jahre später auf Spurensuche nach der verflossenen Liebe und der Zeit, in der man noch keine Pläne haben musste. Ein Gespräch über prekäre Einkünfte, Freunde und ein Leben ohne die alte Band.
„Der Abfall der Herzen“ erschien am 22. Februar 2018 und hat kurz danach bereits die zweite Auflage erreicht. Wurdest du überrascht von diesem Erfolg?
Es ist auf jeden Fall ein gutes Zeichen. Der Verlag hat schon nachgedruckt, bevor das Buch überhaupt erschienen ist. Ich habe dann einen Anruf bekommen, ich sollte schnell die Fehler durchgeben, die es bei einer ersten Auflage eigentlich immer gibt, um rechtzeitig nachdrucken zu können. Da habe ich natürlich gedacht: Geil, jetzt wird alles gut.
Die Liste mit Leseterminen wirkt ziemlich beeindruckend, weil sehr lang. Bist du gerne unterwegs, oder muss man diese Ochenstour, ähnlich wie im Musikgeschäft, machen, um Geld zu verdienen?
Beides. Ich bin immer noch sehr gerne unterwegs und natürlich ist das immer ein großer Teil meines Einkommens gewesen.
Wo würdest du dich innerhalb der deutschen Literatur einordnen, eher im Pop-Bereich, oder bei der Gegenwarts-Literatur, in welche Schublade gehörst du?
Keine Ahnung, ehrlich. Es gibt natürlich Leute, mit denen ich mich verbunden fühle, Tino Hanekamp beispielsweise, Linus Volkmann oder Jan Brandt. So langsam mischt sich mein Publikum, es wird erweitert um ältere Leute und das klassische Literaturpublikum. Das sehe ich bei den Lesungen und ich freue mich darüber. Deswegen finde ich Veranstaltungen wie die „WDR Vorleser“ gut, weil man da potenziell ein Publikum erreicht, das einen noch nicht kennt.
Dafür hast du ja auch die musikalische Vergangenheit…
…ja, und die werde ich auch nicht los, in den Rezensionen steht immer noch „Ex-Muff Potter-Sänger Nagel“.
Ärgert dich dieser Stempel immer noch?
Nein, es ärgert mich nicht, aber ich finde es interessant, dass man oft noch dieser Typ aus der Band ist, der nebenbei ein bisschen schreibt. Ich habe immer geschrieben, Tagebuch und Songtexte, in den 1990er Jahren habe ich das Fanzine „Wasted Paper“ gemacht, wo es zum Schluss nur noch am Rande um Musik ging, Erlebnisberichte statt Band-Interviews. Und meine Band Muff Potter war nie eine richtig große Band. Keine der Platten hat sich so gut verkauft wie meine Bücher.
Glaubst du, die Geschehnisse in „Der Abfall der Herzen“ sind universell, könnten im Jahr 1999 also auch in anderen Kleinstädten in Deutschland so ähnlich stattgefunden haben?
Ja, auch in einem anderen Jahr sogar. Meine Helden sind ja auch keine typischen Vertreter ihrer Generation, sie wollen anders sein, anders leben, andere Beziehungen führen. Aber natürlich wäre zum Beispiel die Sprache eine andere, wenn das Buch in Bayern spielen würde. Bei den Lesungen merke ich, dass auch Menschen, die damals noch im Kindergarten waren oder aber damals schon eigene Kinder hatten, etwas mit dem Roman anfangen können. Der Roman spielt zu zwei Dritteln im Jahr 1999, aber viele der Themen sind universell.
War dieses Jahrzehnt tatsächlich auch für andere Zeitzeugen etwas Besonderes? Können die 1990er im Rückblick ähnlich legendär werden wie die 60er,70er und 80er-Jahre?
Die 1990er werden ja oft als das Ende der Geschichte bezeichnet. Der Kalte Krieg ist vorbei, der technische Fortschritt wird noch positiv gesehen und es gibt noch nicht so viel Angst davor. Und für mich ist 1999 tatsächlich auch der Vorabend zu den Veränderungen, die seitdem über uns hereinbrechen.
Im Hinblick auf die Jahrtausendwende?
Eher Sachen wie 9/11, die Anschläge auf das World Trade Center. Ich würde jetzt sagen, der 11. September 2001 ist dem Jahr 2018 inhaltlich tatsächlich viel näher, als dem Jahr 1999. Wenn das Buch 2005 gespielt hätte, wäre die Recherche eine ganz andere gewesen, ich hätte auf meinem Computer viele Digitalfotos gehabt, alte SMS und E-Mails. Ich hätte Belege dafür, mit wem ich wann verabredet war und mit wem ich wann und wie schriftlich kommuniziert hätte.
Was sind die prägnanten technischen oder kulturellen Neuerungen, die du aus den 1990ern spontan benennen könntest?
(Überlegt) Ich habe da zum ersten Mal ein GPS erlebt, als ich mit meiner damaligen Freundin zusammen einen Lift bekam, von einem älteren Ehepaar. Da kamen dann plötzlich Routen-Instruktionen aus den Autolautsprechern. Wir fanden das damals sehr lustig und fragten uns, was das denn für Idioten sind und wer denn sowas braucht.
Eigentlich möchte der Protagonist Nagel in „Der Abfall der Herzen“ ein ganz anderes Buch schreiben, über ein Paar, das im Urlaub seine Beziehung retten will. Bist du tatsächlich noch an dieser Idee dran?
Nein. Ich habe alles, was mich an dieser Idee interessierte, auf anderthalb Seiten in „Der Abfall der Herzen“ verbraten.
Was war denn die Eingebung, die dich auf die erste Romanidee gebracht hat?
Ich wollte mir selbst und vielleicht der Welt (lächelt) beweisen, dass ich einen komplett fiktionalen Roman schreiben kann. Aber etwas beweisen zu wollen, das ist eine ganz schlechte Motivation, Kunst zu machen. Ich weiß, dass ich das kann, fiktional schreiben. Aber warum soll ich das tun, wenn mich etwas anderes gerade mehr interessiert? Das sage ich jetzt so lapidar, aber als ich beschloss, die Idee nicht weiter zu verfolgen, war das ein schreckliches Gefühl. Ich habe vorab viel dazu recherchiert, ich war auf Kuba, habe dort viele Leute interviewt und mich ins Krankenhaus einliefern lassen, um zu sehen, wie das ist. So etwas dann komplett zu verwerfen, das ist keine einfache Entscheidung.
Du arbeitest also nicht länger auf den großen, fiktionalen Roman hin?
Der Anspruch, einen großen Roman zu schreiben, hat nichts mit der Art zu tun, wie ich arbeite. Ich bin Autodidakt, in allem, was ich tue. Da ist viel Trial-and-Error im Spiel. Ich verlasse mich vor allem auf meine Begeisterungsfähigkeit. Wenn ich die nicht spüre, dann bringt es nichts.
Wie deine vorhergehenden Bücher hat „Der Abfall der Herzen“ einen stark autobiografischen Bezug, egal wieviel davon letztlich wahr ist oder nicht…
…Das ist tatsächlich das Subthema des Buches. Was überhaupt der Unterschied sein soll zwischen Fiktion und Autobiografie. Für mich als Leser sind das keine relevanten Kategorien. Ich verstehe auch nicht, warum es in Rezensionen immer so viel um die Handlung geht. Jeder kann in den Buchladen oder zu Amazon gehen und sich die Inhaltsangabe oder den Klappentext durchlesen. Was aber ein schlechtes zu einem guten Buch und ein gutes zu einem sehr guten Buch macht, sind Dinge wie Sprache, Stil oder Form. Überraschende Wendungen in der Geschichte finde ich oft eher langweilig.
Das ist eine ziemlich subjektive Sicht…
…Klar, aber an die muss ich mich ja halten. Ich finde deswegen auch, dass „Der Abfall der Herzen“ anders ist als meine voherigen Bücher. Ich habe sehr viel Zeit mit den Dialogen verbracht. Darum geht es mir vor allem, der Ton, der Sound, wie man die Figuren lebendig kriegt, sodass sie wirklich hängenbleiben. Ich habe ja sehr viele Protagonisten im Buch. Auch so etwas, was mich in zeitgenössischen Romanen oft stört: wenn es da diese überschaubare Menge an Personal gibt. Das ist oft eine ökonomische Entscheidung des Autors, um die Geschichte übersichtlich zu halten. Aber gerade bei Protagonisten im Alter zwischen 20 und 30 glaube ich das oft einfach nicht, wenn die nur einen besten Freund haben oder eine Arbeitskollegin, ein bisschen Familie und einen Partner oder Partnerin, aber überhaupt kein Umfeld.
Ist das Leben und Reisen als Schriftsteller angenehmer, oder vermisst du manchmal den Tour-Alltag mit der Band?
Es ist sehr viel angenehmer als Schriftsteller. Ich fahre kurze Strecken mit dem Zug, bin alleine und muss keine 80-Kilo-Bassbox die Treppen runterschleppen. Es hängt mir kein schweißnasses T-Shirt im Nacken, wenn ich mich im Sitz anlehne. Aber es ist natürlich auch ein bisschen einsamer.
Bist du gerne alleine?
Ja. Mir ist nie langweilig. Für mich könnten die Tage eigentlich noch viel länger sein, damit ich mir mehr angucken oder mal ein Buch auslesen kann. Damit habe ich kein Problem. Manchmal fehlt mir ein Tourmanagement. Wenn man sich unterwegs um alles selbst kümmert, wird man ein bisschen dünnhäutig. Wenn zum Beispiel im Zug wieder alle durchdrehen, weil die Wagenreihung geändert ist. Klar, das ist wirklich ein Luxusproblem, ehrlich gesagt. Was mir fehlt, ist das Gefühl, mit anderen etwas auf die Beine zu stellen. Wenn du einen Schlagzeuger hinter dir hast, der dir den Beat vorgibt, auf dem du nur noch zu surfen brauchst. Oder dass andere dich auffangen, wenn du mal einen schlechten Tag hast. Wenn ich jetzt einen Aussetzer von fünf Sekunden auf der Bühne habe, sind das die längsten fünf Sekunden, die ich mir vorstellen kann. Sowas kann von einer Band immer schön abgefedert werden.
Foto: Harald Hoffmann
Kompensierst du diese Anflüge von Wehmut nach Gemeinsamkeit irgendwie?
Zum einen mache ich in Berlin seit 2017 die Literaturshow „Nagel mit Köpfen“, wo ich mit einem Gast auf der Bühne sitze und man sich die Bälle zuspielen kann, was großen Spaß macht. Und auf dieser Lesetour habe ich mir für verschiedene Städte Gastleser eingeladen. Da merke ich wieder, wie toll das ist, solche Momente zu teilen.
Welche Botschaft vermittelt eigentlich der Anzug, den du seit ein paar Jahren als Schriftsteller trägst?
Ich habe schon immer gerne Anzüge getragen. Meinen ersten perfekt sitzenden Anzug habe ich im Second-Hand-Laden eines Freundes in Berlin gefunden, den wollte ich gar nicht mehr ausziehen. Ein Anzug ist kleidsam, fühlt sich gut an und, vielleicht der wichtigste Grund, er ist unfassbar praktisch. Wegen der ganzen Taschen. (Zeigt auf sein Jackett) Ich habe hier meine Kippen, hier mein Notizbuch, hier mein Handy und hier mein Portemonnaie.
Es unterstreicht also nicht den Wandel vom Punkrocker zum Literaten?
Nein, gar nicht. Literaten tragen ja meist eher ein Jackett zur Jeans. Ich denke beim Anzug eigentlich eher an Nick Cave. So sollte man Anzüge tragen, finde ich.
Hat dich John Niven, mit dem du gemeinsam auf Lesereise warst, mit Tipps zur Schriftstellerei bereichert, oder habt ihr nur zusammen über die Musikindustrie gelacht?
Keine Tipps, aber wir reden viel über Literatur und Musik. Niven ist so ein smarter, angenehmer Typ, mit dem rede ich über alles. Ich war sogar mal zu Weihnachten bei ihm eingeladen und habe dann mit ihm, seiner Frau, seiner Tochter und seiner Mutter gefeiert.
Liest du auch eigene Sachen, wenn du mit Niven unterwegs bist?
Nein, ich bin da nur der Lakai. Ich bin von meinem alten Verlag Heyne beauftragt, den Abend zu moderieren und die deutschen Passagen zu lesen. Mittlerweile bin ich so etwas wie der Schottland-Beauftrage bei Heyne, ich war auch schon mit Irvine Welsh und David F. Ross auf Tour.
Im Buch gibt es eine Stelle, wo der Protagonist Nagel sagt: „Wenn ich diesen Sommer nichts schreibe, weiß ich nicht, wovon ich nächstes Jahr leben soll.“ Lebst du als Autor in eher prekären Verhältnissen?
Ja. Von Ast zu Ast, und wenn es nicht läuft, dann von der Hand in den Mund (lächelt). Aber ich lebe immerhin davon, was schon sehr selten ist. Nur sehr wenige Romanautoren können vom Schreiben leben, und die, bei denen es klappt, arbeiten darüber hinaus oft noch journalistisch oder halten sich mit Preisen und Stipendien über Wasser.
Setzt dich diese finanzielle Unsicherheit unter Druck?
Komischerweise nicht. Ich bin das gewohnt, ich hatte nie irgendwelche Sicherheiten. Ich habe nichts gelernt, nichts studiert, das war mir immer ein bisschen egal.
Du machst Linolschnitte, die laufen auf deiner Internetseite unter der Rubrik „Kunst“. Davon kann man sicherlich nicht leben, aber wie wichtig ist dir diese quasi dritte Kunstrichtung, neben Schreiben und Musik machen?
Die Linolschnitte waren eigentlich eine Art Prokrastination. Ich habe immer dann Linolschnitte gemacht, wenn ich eigentlich schreiben wollte, es aber nicht hingekriegt habe. Vielleicht eine Art Übersprungshandlung. Ich habe nichts mit bildender Kunst zu tun, ich kenne auch niemanden in dem Bereich.
Hast du vor, als Schriftsteller alt zu werden, oder gibt es noch ein unerfülltes berufliches Ziel, das du dir gesetzt hast?
Was das Geld verdienen betrifft, wird es schon die Schriftstellerei sein. Ich habe noch von nichts so gut gelebt wie vom Schreiben und im Moment läuft es auch ganz gut, ich hatte noch nie so viel Sicherheit wie jetzt.
Wird das Bedürfnis nach Sicherheit im Alter stärker?
Ich freue mich eher, weil ich denke, dass ich es vielleicht verdient habe (lacht), nach all dem, worauf man verzichtet hat. Aber ich würde zum Beispiel auch mal schauspielern. Weil ich alles gerne mal ausprobiere, und weil die ersten Male im Leben mit zunehmendem Alter ja immer weniger werden.
Für jemanden, der dich nicht kennt, welche Autoren müssten im Satz „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…“ vorkommen?
Oh Gott! Da kann ich eigentlich nur ein paar Lieblingsautoren nennen, weil ich mir nicht vorstellen kann, ein Algorithmus zu sein. In deutscher Sprache wären das zum Beispiel Jörg Fauser, Wolfgang Herrndorf oder Thomas Melle, und von denen vor allem die autobiografischen Sachen. Ich habe auch Karl Ove Knausgård, Joachim Meyerhoff und Elena Ferrante komplett gelesen, erfolgreiche und zumindest teilweise autofiktional schreibende Autoren, bei denen ich gucken wollte, wie die das machen.
Wie optimistisch siehst du die Zukunft des gedruckten Buches, immerhin gibt es auch dein Buch schon direkt als Hörbuch?
Ich glaube, es wird noch eine ganze Weile gedruckte Bücher geben. Es gibt aber ganz andere Fragen, die mich seit heute umtreiben. Ich war vorhin mit meinem Lektor und seinem frisch geborenen Sohn im Kinderwagen unterwegs. Er beschäftigt sich jetzt mit solchen Fragen wie, ob sein Sohn noch einen Führerschein machen wird oder ob in der Zukunft nur noch selbstfahrende Autos existieren, oder ob er noch Fremdsprachen lernen wird, wenn es in der Zukunft dafür vielleicht einen Knopf im Ohr geben wird. Ich hatte über diese Dinge wirklich noch nie nachgedacht. Vielleicht bin ich auch zu sehr mit dem Hier und Jetzt beschäftigt, um konkrete Zukunftsvisionen zu entwickeln. Und ich habe keine Kinder.
Bist du selbst ein Hörbuch-Typ, oder eher der Vinyl-Sammler?
Kein Hörbuchtyp, eher der Vinyltyp, aber kein Sammler. Hörbücher habe ich in letzter Zeit zwar ein paar gehört, aber immer nur von Büchern, die ich schon gelesen hatte.
Suchst du dann auch gezielt nach bestimmten Sprechern aus?
Das waren glaube ich immer Sachen, die die Autoren selbst gesprochen haben. Schauspieler sind mir als Hörbuchsprecher meistens zu akkurat und korrekt, da fehlt das Persönliche, der Schmutz. Sven Regener würde ich mir zum Beispiel immer lieber anhören als lesen, für mich gewinnt der Text durch sein schnodderiges Bremer Idiom an Reiz.
Du reist ziemlich gerne, wie man auch deinem Buch „Drive-By-Shots“ entnehmen kann. Welche Orte haben dich auf Reisen am nachhaltigsten beeindruckt?
Kambodscha, Kuba, Israel, Mexiko. Anfang des Jahres war ich in Kolumbien. Aber am allermeisten immer noch die USA. Das beeindruckt auf eine andere Art, weil es nicht so fremd ist, wir sind ja mit der Musik, den Filmen und der ganzen Popkultur aufgewachsen. Im Mietwagen auf einem Highway durch die Südstaaten zu fahren, das triggert bei mir immer noch sofort diese romantische Idee von Freiheit und Weite.
Machst du aktuell noch Musik?
Ich habe nicht bewusst das Musikmachen aufgegeben, aber momentan mache ich tatsächlich nichts. Immerhin haben wir mit Muff Potter in Fast-Originalbesetzung bei der Buch-Release-Party in Berlin fünf Songs gespielt, obwohl wir vorher nur einmal zusammen geprobt haben. Und die Arbeit mit der Band „Nagel“, die auch immer noch einen anderen Namen kriegen sollte, verlief ein bisschen im Sande, weil wir alle andere Sachen zu tun hatten. Wir waren kurz davor eine Platte aufzunehmen, hatten fünfzehn Songs fertig, aber das haben wir irgendwie dann verpasst.
Und Muff Potter ist definitiv Geschichte? Immerhin trauern auch zehn Jahre nach der Trennung noch Fans der Band hinterher.
Ja, ich bin wirklich erstaunt darüber! So groß war die Band ja nicht. Nach dem Auftritt bei der Buch-Release-Party hat der Musikexpress einen Online-Artikel
verfasst und festgehalten, wer aus der Band zu einer möglichen Reunion was gesagt hat, das war schon merkwürdig. Denn wir haben als Band im dem Heft vorher nie stattgefunden, es gab nur mal eine
halb verrissene Plattenrezension.
Mittlerweile sitzen da aber ja auch viele neue Leute.
Ja, das stimmt. Aber es ist natürlich auch einfacher, etwas gut zu finden, was vorbei ist. Eine Band, die nicht mehr existiert, kann ja auch nichts falsch machen.
Ein paar unmoralische Reunion-Angebote hatten wir auch schon. Mittlerweile denke ich, wir hätten das damals anders machen sollen, es als Pause ankündigen, die dann vielleicht auch für immer ist.
Damit es nicht diesen Reunion-Stempel kriegt, wenn man doch wieder etwas zusammen macht. Denn selbst, wenn wir uns das überlegen, und das kommt gelegentlich vor, schrecken alle vor diesem Begriff
ein bisschen zurück. [Anm. d. Red.: Das ist mittlerweile überholt, 2019 gehen Muff Potter für einige Konzerte wieder
auf Tour, viele Gigs waren sehr schnell ausverkauft, einige Konzerte wurden in größere Venues hochverlegt.]
Klaas Tigchelaar // Das Interview fand Anfang April in Bonn statt. Es wird exklusiv hier
veröffentlicht.
Info:
Thorsten „Nagel“ Nagelschmidt wurde 1976 in Rheine geboren und ist Schriftsteller, Musiker und Künstler. Von 1993 bis 2009 war er Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter, die sieben Alben veröffentlichten und über 600 Konzerte spielten. Sein Debütroman „Wo die wilden Maden graben“ erschien 2007 im Ventil Verlag. Mit seiner Linoldruckserie „Raucher“ hatte er seit 2011 in Deutschland zahlreiche Ausstellungen. Nagelschmidt lebt in Berlin.