Christian Bartel
Ich bin nicht in meinem Alter
Softcover, Satyr Verlag 2021, 200 Seiten.
Christian Bartel ist ein Tier auf der Bühne. Wenn er auf Lesebühnen im Nah und Fern mit seinen Textblättern flattert und im grölenden Bass wie im
kreischenden Falsett gleichermaßen seine hochkomischen Episoden vorträgt, kann einem schonmal das Nackenhaar zu Berge stehen. Wenn es nicht so komisch wäre. Und wenn endlich wieder Bühne
wäre.
Denn obwohl Bartel auch als freier Redakteur der taz-Wahrheit tätig ist, und sich mit Bühnenstücken und Radiogeschichten für Kinder (»Ohrenbär«, »ARD-Kinderradionacht«) vor der
künstlerischen Bankrotterklärung in Corona-Zeiten in Sicherheit bringt – erst vor Publikum erwacht der bärtige Hüne so richtig zum Leben.
Zur Überbrückung des Hiatus zwischen Geschichte und Darbietung kann man sich nun das neueste Buch von Bartel selbst vorlesen. Natürlich geht es um das Fortschreiten der Lebenszeit, der Titel ruft es bereits angewidert aus. Beim Arztbesuch, aber auch beim Smartphone-Kauf, dem rheinischen Kettensägenmassaker oder in der Kurzgeschichte »Von Vollidioten und Vollautomaten« kann man mit breitem Grinsen daran teilnehmen, wie die Distanz zwischen dem 1975 geborenen Bartel und der »Höhe der Zeit« exponentiell zunimmt. »Mir hat meine Oma noch beigebracht, dass man mit Essen nicht herumspielt, und das galt auch für Heißgetränke«, heißt es in der letztgenannten Kurzgeschichte des liebevollen Barista-Bashings gleichermaßen süffisant wie verwundert. Nachdem eine Sechsjährige sich in »Latte-Art« versucht hat und ihr Vater sie kurzerhand für hochbegabt erklärt. 23 kreischend-komische Geschichten, manche evtl. schonmal live gehört, manche frisch mit Corona infiziert. Allen gemein ist eine etwas apathische, aber stets sehr pointierte Beobachtungsgabe, die oft überzeichnete Hilflosigkeit vorgaukelt, und sie dann mit wahnwitzigen Metaphern in die Bewusstlosigkeit knuddelt. Dies soll zwar kein Apell gegen den Kauf, Konsum und das Sammeln von schönen gedruckten Büchern sein, aber richtig gebartelt ist man eben erst, wenn der Autor einem höchstselbst mit maximaler Ekstase die Lebensweisheiten in die Ohren trötet.
[Klaas Tigchelaar]