Mit »Unterleuten« präsentiert Juli Zeh ihren bislang umfangreichsten Roman. Die Geschichte eines ostdeutschen Dorfes, das mit dem Wandel der Zeit, dem
Kapitalismus, aber vor allem mit seinen Bewohnern zu kämpfen hat. Auch zwei Ingolstädter tauchen darin auf: der (fiktive) Unternehmensberater Konrad Meiler, der aus einer Laune heraus viel Land
in der Ost-Prignitz erworben hat und dort nun einen Windpark betreiben will. Und der (reale) Buchautor Manfred Gortz. Ein Gespräch über Stadtflucht, Sehnsucht und die eigenen Dorf-Erfahrungen der
41-jährigen Autorin, die seit 2007 in einer 300-Seelen-Gemeinde in Brandenburg lebt.
Alle Fotos: Thomas Müller
Frau Zeh, Sie bezeichnen Ihr neues Buch als »großen Gesellschaftsroman«. Ist solch ein Buch mit über 600 Seiten so etwas wie die Königsdisziplin der
Schriftstellerei?
Für mich schon. Ich lese am allerliebsten Bücher, die nicht nur eine persönliche Geschichte erzählen, sondern darüber hinaus auch etwas über die Epoche oder die
Zeit sagen, in der sie handeln. Wenn ich meine Romane der letzten Jahre so anschaue, muss ich sagen, dass ich bei »Unterleuten« mit dem Ergebnis sehr zufrieden bin.
Das heißt, die Geschichte in »Unterleuten« kann auch in 50 Jahren noch ein überzeugendes Abbild unserer derzeitigen Gesellschaft liefern?
Das glaube und hoffe ich. Oft geht es dabei ja um ein Lebensgefühl, das man gar nicht so klar benennen kann. Es gibt Bücher, die es geschafft haben, für eine
Epoche stilprägend zu werden, weil darin Figuren auftauchen, die so stark unter dem Einfluss ihrer Zeit stehen, dass sie in der Lage sind, intuitiv ein Gespür dafür zu vermitteln, wie man zu
der Zeit gelebt hat. Das ist es eigentlich, was ich mit meinem Buch versucht habe. Es geht nicht um historisches Faktenwissen, dafür gibt es die Geschichtsschreibung, sondern mehr darum, die
Möglichkeit zu bieten, sich einzufühlen, in die Psychologie einer Zeit.
Sie haben fast zehn Jahre an diesem Buch geschrieben. Wann kam das Dorf als zentraler Handlungsort in die Geschichte, direkt zu Beginn Ihrer
Arbeit?
Das Dorf war der Ausgangspunkt von allem. Wie sich dann die einzelnen Bestandteile nach und nach angesiedelt haben, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Es war
ein langer, langsamer und sehr organischer Prozess. Ich habe lange Zeit an dem Buch geschrieben, ohne technisch zu planen oder mir Notizen zu machen, zu den Figuren oder dem Handlungsverlauf.
Ich habe es sehr lange vor sich hinplätschern lassen und wusste auch nicht von Anfang an, ob die Geschichte letztendlich fertig wird.
War der Auslöser Ihr Umzug von Leipzig aufs Land?
Ja, das war im Jahr 2007 und ein großer Einschnitt. Ich bin auf dem Land erstmal mit sehr vielen Situationen konfrontiert worden, die mich sehr überrascht
haben. Eine völlig andere Welt, in die ich als Städterin eingetaucht bin, und feststellen musste, wie wenig Ahnung ich vom Landleben habe. Als Schriftstellerin verarbeite ich immer eigene
Erfahrungen, auch wenn man sich natürlich vieles dazu ausdenkt, oder überspitzt. Bei einigen Autoren fußt die Arbeit auf Recherche, beim mir ist es eher das Erlebte.
Besitzen Sie Haustiere, wie sie für das Leben auf dem Dorf opportun erscheinen?
Ja, aber keine Ochsen, mit denen ich pflüge oder so (lacht)! Wir haben eine Katze und zwei Pferde.
Wie stark ist Ihrer Einschätzung nach der Sog bei den urbanen Twentysomethings in den deutschen Großstädten, hinaus aufs Dorf zu ziehen?
Für die Twenty- bis hin zu den Fiftysomethings ist das glaube ich ein Riesentrend, den ich sehr spannend finde, hauptsächlich weil mich die Gründe dafür
beschäftigen. Warum wollen die Leute aufs Dorf? Wovor laufen sie weg? Aus meiner Sicht ist das ganz eindeutig eine Fluchtbewegung. Das ist auch ein Teil dessen, was ich mit einem
Gesellschaftsroman abbilden möchte, dieses Gefühl, dass sich sehr stark verbreitet hat, dass wir in der heutigen Welt nicht mehr klarkommen, überfordert sind, dass wir raus wollen, es aber kein
»raus« mehr gibt. Weil die Entwicklung dazu geführt hat, dass Kultur immer flächendeckender wird, das Exotische immer weniger vorhanden ist und der Weltinnenraum langsam zum Gefängnis wird. Man
müsste dann schon zum Mond fliegen, damit es wirklich anders aussieht. Mit diesem Gefühl entdecken die Leute dann die Provinz, die neue Exotik, den neuen Fluchtort, die neue Sehnsucht. Auch wenn
sie vielleicht nur ein paar Kilometer von der eigenen Haustür entfernt liegt.
Erfüllen sich diese Wünsche und Träume denn, wenn man erst einmal umgezogen ist?
Nein, natürlich nicht! Das ist zum Scheitern verurteilt. Leider ist es mit menschlichen Wünschen ja häufig so, dass sie schnell ins Surreale driften, wenn sie einem
über den Kopf wachsen. Dann zielen die Wünsche nicht mehr auf einen konkreten Lebensentwurf, sondern auf etwas, was nicht sein kann. Das Verlassen unserer Zeit, unserer Gesellschaft steckt
vielleicht dahinter, aber das gibt es natürlich nicht für uns. Und deswegen sind Menschen häufig bitter enttäuscht, wenn sie glauben, sich diese Wünsche dadurch erfüllen zu können, dass sie
hinaus aufs Land ziehen.
Ist das vergleichbar mit dem Wunsch junger Schulabgänger, aus der Provinz nach Berlin zu ziehen, wo ja angeblich das wahre Leben spielt?
Das ist für mich quasi das nächste zu behandelnde Thema, die gegenläufige Bewegung, ja. Auf mich wirkt das aber, und das soll jetzt niemanden denunzieren, fast ein
bisschen antiquiert, jetzt noch nach Berlin ziehen zu wollen. Das ist etwas, was wir in den 1990ern, und vielleicht auch noch kurz nach der Jahrtausendwende wollten. Wirklich hip ist man, wenn
man aus Berlin schon wieder weg ist (lacht)!
Ist es nicht vielleicht sogar ein Trend, erst nach Berlin zu ziehen, um dort dann den Wunsch zu verspüren, aufs Land zu ziehen?
Sicher kann man es darauf runterbrechen und dann ist da auch überhaupt nichts dabei. Wenn man ein paar Jahre in Berlin gelebt und gearbeitet hat, ein bisschen was
verdient hat, und dann für die Familiengründung den Wunsch verspürt, aufs Land zu ziehen, um da für einen kleinen Pfennig ein Haus zu erwerben. Auch weil es sich im Berliner Umland momentan noch
sehr viel günstiger wohnen lässt. Diese Phase, in der viele Leute nach Berlin gezogen sind hat ja durchaus historische Gründe. Nach der Wiedervereinigung war unser Land geprägt von einer starken
Euphorie, wir haben an die Möglichkeiten der Demokratie geglaubt, daran dass der Weltfrieden nach dem Ende des Kalten Kriegs ein Stückchen näher gerückt ist. Die Wiedervereinigung und Europa, das
waren positive Begriffe. Wir wollten mitmachen und in die großen Städte ziehen, wir wollten Partizipation und Teilhabe. Es gab ein positives Lebensgefühl. Und momentan ist es eher ins Gegenteil
umgeschlagen, keiner will mehr bei irgendwas mitmachen, der Rückzug ins Private, die heimelige, überschaubare Welt ist populär geworden.
Wenn Sie nach wie vor glücklich sind auf dem Land, was haben Sie denn anders gemacht, als diejenigen, die vom Landleben enttäuscht worden sind?
Der große Unterschied ist für mich persönlich die Tatsache, dass ich gar nicht aufs Land wollte. Ich war tatsächlich auch auf dem „ich will nach Berlin«-Trip, habe
dann versucht in Berlin eine Wohnung zu finden und dabei gemerkt, dass ich überhaupt nicht warm werde mit der Stadt. Dann war ich mir mit einem Mal gar nicht mehr so sicher. Dass es am Ende die
Provinz geworden ist, war eher dem Zufall geschuldet, als dem Versuch, eine Sehnsucht zu erfüllen. Mein Mann und ich haben eben dieses Haus entdeckt, fanden es ganz toll und haben dann
Kamikaze-mäßig die Kaufentscheidung getroffen. Eingezogen sind wir tatsächlich erst ein paar Jahre später, weil es am Anfang eine echte Bruchbude war. Ich hatte aber keine Erwartungen und keine
Hoffnungen, deswegen konnte ich auch nicht enttäuscht werden. Wir haben nicht darüber nachgedacht und haben nicht viel damit verbunden, außer, dass wir das Haus einfach schön fanden, und
verwundert waren, dass wir uns das tatsächlich auch leisten konnten. Natürlich kam dann das dicke Ende im Laufe der Sanierung, aber bereut haben wir es nicht.
Wie viel Kritik am Landleben, und dessen Verweigerungshaltung gegenüber Veränderungen und Modernisierungen steckt in »Unterleuten«?
Ich finde gar nicht, dass man das kritisieren oder loben kann. Es sind einfach Lebensräume und niemand ist dafür kritisierbar, wo er geboren ist oder sich aufhält
oder hinzieht. »Unterleuten« beschäftigt sich ganz stark mit der Frage, was Menschen motiviert, wie die einzelnen Figuren drauf sind, die dort aufeinandertreffen. Ich mag diese Figuren, empfinde
viele von ihnen in ihrem Scheitern als tragisch, einige sind verblendet. Und auch die Epoche kann man nicht kritisieren, weil man es denn Leuten nicht vorwerfen kann, dass sie Angst haben, oder
sich überfordert fühlen. Man kann dann nach den Gründen fragen, versuchen den Leuten Mut zu machen. Es ging mir eher darum, einen Spiegel zu erschaffen, in dem man vielleicht etwas erkennen kann,
anstatt zu sagen: Ihr macht etwas falsch!
Wer ist in »Unterleuten« am Ende glücklicher, die alteingesessenen Bewohner oder die Neuzugänge?
Keiner! Der Ort Unterleuten verurteilt ja quasi alle Beteiligten zum Scheitern, ein Happy End gibt es eigentlich für niemanden. (Überlegt) Ich persönlich habe ein
klein bisschen mehr Sympathie für die Alteingesessenen, für diese Prinzipientreue, die sich aus der Verwurzelung ergibt. Sie können nicht weg und gehen auch nicht weg, sondern setzen sich mit dem
auseinander, was vor Ort passiert und versuchen das so gut wie möglich zu regeln. Das hat einen sympathischen Anspruch für mich, gerade in der heutigen Zeit, die auch ich als sehr flüchtig, zu
schnell und chaotisch empfinde.
Wie stark werden alteingesessene Dorfstrukturen von der Urbanisierung bedroht? Braucht es tatsächlich viel Zuzug von Außen, damit viele Dörfer in Ost- wie
Westdeutschland nicht irgendwann leerstehen?
Objektiv betrachtet ist die Lage verheerend. Ich wundere mich immer noch, dass die Politik das hartnäckig ignoriert. Hier gäbe es so viel Wichtiges zu tun und zu
verändern, damit die Region nicht völlig entvölkert wird und sich am Ende selbst überlassen bleibt. Es entstehen anarchische Strukturen, wie auch im Buch thematisiert, wenn die Leute sich fragen,
warum sie sich eigentlich noch für den Staat interessieren sollten, wo er sich doch eh nicht um ihre Belange kümmert. Dann regeln sie ihre Probleme eben einfach alleine. Das kann gut
funktionieren, aber auch ganz gewaltig in die Hose gehen, was dann wieder das ganze Land betreffen würde. Es bräuchte in ländlichen Gegenden ernstgemeinte Infrastrukturmaßnahmen. Wir haben kaum
noch Ärzte hier, es gibt zu wenig Schulen, Kindergärten sind von der Schließung bedroht. Wenn man das den Leuten wegnimmt, können sie irgendwann einfach nicht mehr auf dem Land wohnen.
Können Sie da praktische Beispiele aus Ihrer eigenen Erfahrung nennen?
Unser Kindergarten sollte vor ein paar Jahren geschlossen werden, was wir mit einer Protestaktion verhindern konnten, und weil sich letztlich doch ein Träger
gefunden hat, der den Weiterbetrieb übernommen hat, wofür ich nach wie vor unendlich dankbar bin. Das ist ein ganz klassisches Beispiel: Wenn es ein paar Jahre mit schwächeren Geburtenzahlen
gibt, führt das zwangsläufig dazu, dass der Kindergarten dichtgemacht wird. Inzwischen ist unser Kindergarten aber wieder überfüllt, weil es sehr viel Nachwuchs gibt. Die ärztliche Versorgung ist
auch besorgniserregend, da herrschen Zustände, die ich zunächst gar nicht glauben konnte, weil man teilweise sehr weit fahren muss, um einen Arzt zu finden, der einen behandeln kann.
Aber man kann sich damit arrangieren …
… Naja, vor allem wenn man jung ist, Geld und ein Auto hat. Ich bewundere es total, wie die Leute das hier aber auch ohne diese Voraussetzungen schaffen. Es ist
eine arme Region, die Leute in der Nachbarschaft haben teilweise derart wenig Geld zur Verfügung, dass kann sich ein Städter in Berlin, der glaubt er wäre arm, wahrscheinlich gar nicht
vorstellen. Aber alle helfen sich gegenseitig, die Oma, die kein Auto hat, wird kurzerhand von den Nachbarn gefahren. Das ist toll, weil es natürlich zusammenschweißt und ein gesundes Sozialleben
schafft.
Klingt aber auch ein bisschen nach Sozialromantik, oder?
Nein, hier herrschen teilweise eben noch sehr einfache Verhältnisse, von denen wir in Deutschland gemeinhin glauben, dass wir sie überwunden hätten. Manchmal fühlt
es sich auf dem Land wirklich an wie in einer vergessenen Region. Wenn wir Besuch bekommen und ich sage, wir holen euch vom Bahnhof ab, heißt es: Macht euch keine Mühe, wir nehmen uns ein Taxi.
Aber es gibt hier keine Taxen! Nicht nur am Bahnhof nicht, sondern nirgendwo, das glaubt einem keiner. Wenn man ein Taxi will, muss man das aus Potsdam kommen lassen und eine Menge Geld auf den
Tisch legen.
Sie sind als eloquente Stimme zu gesellschaftlichen und politischen Themen bekannt, zuletzt u.a. in der FAZ zum Thema »Privatsphäre und Literatur«. Würden Sie
sich zutrauen, zum derzeitigen Zustand der Gesellschaft, Stichwort Flüchtlingskrise, einen Roman oder eine Novelle zu schreiben, oder ist es schwierig, da den richtigen Ton zu
treffen?
Ein Roman, der alle damit verknüpften Themen behandelt, ist aus meiner Sicht undenkbar, man könnte darüber vielleicht einen groß angelegten Essay
schreiben.
Ein Buch, dass Stimmungen auffängt, und ein bisschen zu ergründen versucht, was Menschen rechtsradikal macht, oder was ganz aktuell zu Ausländerfeindlichkeit führt,
das würde ich mir zutrauen und werde es vielleicht auch versuchen. Mich allerdings direkt am Diskurs zu beteiligen, in Interviews oder Beiträgen, halte ich derzeit nicht für angebracht, weil die
Diskussion momentan derart psychopathisch ist, dass jeder Beitrag es nur noch schlimmer macht. Allerdings werde ich diese Abstinenz, je nachdem wie das so weitergeht, eventuell nicht mehr lange
durchhalten können.