MGMT im Gespräch

»Es ist nicht das Ende der Welt«

Wenn Andrew van Wyngarden und Benjamin »Ben« Goldwasser von MGMT gerade kein neues Album präsentieren oder auf Tour sind, schweigen sie beharrlich. Und so wenig künstlich-aufgebauscht diese Abwesenheit tatsächlich gemeint ist, so eindringlich ist ihr viertes Album »Little Dark Age«. Eine schwere Geburt in der Stille, während um sie herum die Welt durchdreht – was auch nicht ganz ohne Einfluss blieb. Klaas Tigchelaar hat das Schweigen gebrochen.

 


 

Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man das derzeitige Weltgeschehen betrachtet, könnte man den Eindruck gewinnen, dass uns dunkle Zeiten bevorstehen. Die westliche Welt scheint überwiegend zufrieden zu sein mit ihrem Wohlstand, mit der unerschöpflichen Verfügbarkeit von Online-Konsumgütern und mit dem anonymen Vertiefen alter Ressentiments im Internet. Das digitale Zeitalter, wie die alten Leute sagen, stellt uns vor ungeahnte Herausforderungen. Das Filtern von Informationen, Wahrheiten und Lügen, von Propaganda und Manipulation ist in den letzten zehn Jahren sicherlich nicht einfacher geworden. Neben gekonntem Multitasking mit Smartphone, Notebook, Social-Media-Content und dem nach wie vor ziemlich analogen Alltag ist Wissen heute mehr denn je Macht. Deswegen ist es wichtiger als jemals zuvor, die nachfolgende Generation zu einer aufgeklärten, reflektierenden und mündigen Gruppe von vielleicht besseren Menschen zu erziehen – abseits vom Klein-Klein unseres multimedialen Mikrokosmos, in dem Nichtigkeiten meist nur noch als Instagram-Postings taugen. Überlegungen wie diese ziehen sich durch die neuen Songs von MGMT – explizit zum Beispiel bei »TSLAMP«, einer Abkürzung für »Time Spent Looking At My Phone«, und natürlich beim Titelstück »Little Dark Age«.

»Wir befinden uns tatsächlich in einem kleinen, dunklen Zeitalter, auf das wir hoffentlich einmal mit dem Wissen zurückblicken, dass es auch ein Ende hatte«, beschwichtigt Ben Goldwasser jedoch im Interview. »Es ist nicht das Ende der Welt, und wir glauben fest daran, dass es eine glänzende, hoffnungsfrohe Zukunft geben wird.«

Ein dunkler Präsident

Obwohl die Interpretation des Titels von Album Nummer vier, »Little Dark Age«, fast zu offensichtlich erscheint, bleiben van Wyngarden und Goldwasser beim Titeltrack textlich eher vage. Es klingt wie eine metaphorische indirekte Anklage: »Forgiving who you are, for what you stand to gain, just know that if you hide, it doesn’t go away.« Damit sind also nicht nur die Zweifler und Fatalisten gemeint, sondern durchaus auch der aktuelle Präsident der USA, dem es an Häme aus dem Bereich der Popmusik nicht mangelt. Selten zuvor hat sich eine große Gruppe amerikanischer Musiker derart deutlich gegen ihren Präsidenten gestellt, der seine Öffentlichkeitsarbeit gerne höchstpersönlich via Twitter vor die Wand fährt. Und selten hatte die amerikanische Politik direkteren Einfluss auf den Output zahlreicher Künstler. In der November-Nacht 2016, die mit dem Wahlsieg von Donald Trump als 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika endete, waren MGMT auf dem Weg zu einer Aufnahmesession für das neue Album: »Das war eine absolut unwirkliche und apokalyptische Fahrt nach Buffalo, am 9. November, eine Nacht, die ich niemals vergessen werde«, so Goldwasser. »In der Session am nächsten Tag haben wir ›Hand It Over‹ und ›One Thing Left To Try‹ aufgenommen, aber der Entstehungsprozess war hart und problematisch. Die Präsidentenwahl hat in jedem Fall unsere Gehirne beeinflusst und in die Musik und die Texte Einzug gehalten.«

 

 

»Es gibt eine Menge Humor auf diesem Album«

Wenn sich also sogar eine humorvolle und stets zu einer Spontanparty animierende Band wie MGMT von der viel zitierten dunklen Seite der Macht beeinflussen lässt, muss definitiv etwas im Argen liegen. Abseits der Texte dominiert im elektronischen, sämigen und auch dieses Mal wieder überaus tanzbaren Sound aber definitiv der getragene Optimismus mit feinem Hookline-Verständnis. »Little Dark Age« liefert trotz aller Bedenken fantastische Popmusik ab, die beim vierten Album nur knapp an der Perfektion vorbeischrammt. Schon beim ersten Hördurchgang wirkt alles stimmig, mitsingbar und auf eine wärmende Art und Weise vertraut. Richtige Hitsingles finden sich zunächst nicht, vielleicht auch, weil bis auf »Days That Got Away«, der instrumental-lethargischen Chill-out-Zone des Albums, jeder Song sein eigenes freundliches Lächeln mitbringt. Kleckernd-dicke Basslinien, crispe Synthesizer-Melodien und die wandelbar-eingängigen Lyrics sind ein cleveres Fest schöner Songideen.

Seit sich van Wyngarden und Goldwasser im Jahr 2002 (damals noch unter dem Namen Management mit deutlich experimentellerem Krachsound) zusammentaten und mit ihrem Debütalbum »Oracular Spectacular« 2007 einen klassischen Durchbruch landeten, liefern MGMT einen kontinuierlichen Soundtrack des Alltags für die Nullerjahre und darüber hinaus. Vor allem natürlich mit Hymnen wie »Electric Feel«, »Kids« und »Time To Pretend« (allesamt vom Debütalbum), aber auch mit den damit verknüpften medialen Ereignissen. »Electric Feel« wurde nicht nur in einigen US-Fernsehserien (unter anderem »Gossip Girl« und »CSI: NY«) im Hintergrund gespielt, sondern fand auch Verwendung in diversen Videospielen wie »NBA 2K10« und »Tony Hawk: Ride«. Der Remix von Justice schaffte es 2008 in das Rockstar-Game »Midnight Club: Los Angeles«. Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Es gab aber auch unfreiwillige Werbung für die eigenen Kompositionen. Der Song »Kids« wurde 2009 ungefragt im Wahlkampf des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy verwendet.
Zusammenarbeit, anyone?

Obwohl MGMT im Kern ein Duo sind, greifen sie immer wieder auf Studiomusiker und personelle Live-Verstärkung wie Schlagzeuger Will Berman und Bassist Matt Asti zurück. Das neue Album produzierte die Band gemeinsam mit Patrick Wimberly (Chairlift, Kelela, Blood Orange) und Dave Fridmann (The Flaming Lips, Tame Impala, Sleater-Kinney).  Während Fridmann auch schon bei den Aufnahmen des MGMT-Debütalbums und des selbstbetitelten dritten Albums als Produzent tätig war, ist Wimberly das erste Mal mit an Bord. »Patrick war schon bei den Demo-Aufnahmen zum Album dabei, zuvor hatten Andrew und ich alles selbst produziert«, führt Ben aus. »Er war eine große Hilfe, weil wir als Duo dazu neigen, Sachen schnell fertigzustellen und dann nicht mehr zurückzuschauen. Er hat uns dazu animiert, die Musik detaillierter auszuarbeiten und alte Ideen noch weiter zu verfeinern.«   Gleichzeitig fühlt sich Ben Goldwasser musikalisch und textlich deutlich von früher britischer Punkmusik geprägt: »Ich bin stark von The Stranglers beeinflusst, weil sie eine Menge Dinge vereinen, die ich mag: zynische Texte und natürlich viele Synthesizer. Was ich generell an altem britischen Punk mag, ist die Relevanz der Texte: Viele deprimierende Themengebiete werden aufgegriffen: das postindustrielle Leben in England, die Wirtschaftskrise, Armut, das alles wird mit Humor kombiniert.«

 

     Bild: Agustin Hernandez

 

In Sachen Artwork und Video arbeiten MGMT gerne mit Künstlerinnen und Künstlern aus anderen Disziplinen zusammen und lassen ihre Musik von anderen interpretieren. Was auch erklärt, warum sie sich nur zu gerne auf das eher künstlerische Cover dieser Intro-Ausgabe einließen. Musikalische Kollaborationen hingegen sind bei MGMT rar. Was vielleicht auch für die Schere zwischen öffentlicher Superstar-Wahrnehmung und der tatsächlich eher introvertierten Ausstrahlung spricht, welche die Band jenseits ihrer Dancefloor- und Reklame-Hits transportiert. Immerhin ist der Name Ariel Pink durchgesickert, der diesmal mit dabei ist. Ben: »Wir haben mit ihm an ›When You Die‹ gearbeitet. Es war der erste Song, zu dem es Text gab – Ariel Pink hat ihn geschrieben.« Eine andere (vermeintliche) Zusammenarbeit mit dem kanadischen Slacker und Lo-Fi-Musiker Mac DeMarco fand eher in den leichtgläubigen Köpfen zahlreicher Boulevard-Journalisten statt, die 2016 ein Bild auf tumblr.com frei interpretiert hatten. Okay, Intro hatte darüber zwar auch berichtet, die Kollabo aber immerhin angezweifelt (und trotzdem heimlich darauf gehofft). Ben erklärt, dass es bisher keine Zusammenarbeit gegeben habe, er das aber grundsätzlich für möglich halte. »Mac kam in meinem kleinen Heimstudio vorbei, als er noch in Rockaway wohnte. Er wollte einen Prince-Tribute-Song aufnehmen, weil Prince damals gerade gestorben war. Ich mag Macs Musik, und wir hängen ab und zu ab, haben aber noch nie zusammen Songs geschrieben.«

Tod oder Acid-Pop?

Dennoch bleibt es ein schönes Gedankenspiel, sich zu überlegen, mit wem MGMT möglicherweise zusammenarbeiten und Features austauschen könnten. Kaum eine Mainstream-Single in den Ruinen der Charts kommt ja heute noch ohne mindestens einen Gastauftritt aus. Grund genug für die Band, diese mitunter lästige Disziplin nicht auch noch zu fördern. Die Faszination für die Band ist das größte Rätsel. Wie klingen die New Yorker eigentlich, und was hat sie zu diesem sehr eigenwilligen Sound getrieben? Im Sog des subtilen Post-Psychedelic-Revivals wurde ihnen ein Stempel aufgedrückt: Acid-Pop für die aufgeklärte Konsumgesellschaft. Doch so richtig will die Band das nicht hinnehmen: »Ach, letztendlich sind das nur Worte. Viele Leute benutzen beschreibende Adjektive, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich bedeuten. Um Musik zu beschreiben, gibt es eben diesen Leitfaden aus Klischees, Psychedelic und Drogen-Querverweisen. Für uns hat es viel mehr mit Emotionen als mit trippigen Soundeffekten zu tun. Obwohl wir die natürlich auch sehr mögen!«

Die Frage, ob er den Reddit-Thread kenne, der MGMT und LSD-Konsum in Zusammenhang bringt, findet Ben Goldwasser durchaus amüsant: »Nein, wusste ich nicht, das muss ich mir ansehen! Ich finde es gut, dass Leute durch unsere Musik dabei unterstützt werden, verschiedene Bereiche ihres Bewusstseins zu erkunden.« Zum Stichwort Tod, das sowohl auf dem Album als auch im Video zu »When You Die« deutlich heraussticht, antwortet er dagegen etwas ausführlicher: »Meine Lieblings-Inspirationen zum Thema Tod sind wohl ›Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben: ein Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod‹ von Sogyal Rinpoche, der Film ›Hellraiser‹ sowie ›Enter The Void‹ von Gaspar Noé und ›Harold und Maude‹ von Hal Ashby und die Gruselgeschichte ›Ravisssante‹ von Robert Aickman.«

 

Das Leben lieber mit Humor nehmen

Dafür, dass dem Tod auf der Sub-Ebene ein so prominenter Platz eingeräumt wird, darf man sich nicht von der Musik ablenken lassen: »I don’t wanna die, wishing I’d done something, more than what’s required, to last until the sunset. No, I don’t wanna die, thinking that I’m dreaming, there’s one thing left to try, if you wanna change your life« aus dem Song »One Thing Left To Try« zeigt eine stetige Ambivalenz, für die man hinter die Kulissen des sphärisch-hymnischen MGMT-Sounds tauchen muss. Dort findet man eine ehrliche Traurigkeit, aber eben auch humorvolle Beobachtungen, wie in »TSLAMP« (Time Spent Looking At My Phone). »Der Song ist eher eine Zustandsbeschreibung, eine Beobachtung, wie die Welt gerade aussieht. Und wir wollen auch niemanden dafür verurteilen, den ganzen Tag am Handy zu hängen, das würde ziemlich heuchlerisch wirken. Die größte Katastrophe ist doch, wenn man sein Telefon im Taxi liegen lässt. Plötzlich fühlt man sich völlig hilflos und aufgeschmissen. Das ist schon alles ziemlich verrückt.«

So richtig schlau wird man aus MGMT auch nach einem kurzweiligen Interview nicht. Doch die beiden sind tiefgründige Künstler, die auf eine universelle Art musikalische Eingängigkeit mit intellektuellem Tiefgang verknüpfen, nach dem man allerdings ein wenig graben muss. Genau hier liegt vielleicht auch die Magie von MGMT: in dem oberflächlich leichten Zugang zu dem hymnischen Songmaterial und der Menge an Mehrwert, die hinter dem Show-Vorhang bereitwillig zum Aufsammeln verteilt wurde. Denn wer darf heute schon noch ungestraft Saxofon-Soli (»She Works Out Too Much«), Italo-Disco-Gesänge und Flamenco-Gitarrensoli (»TSLAMP«) in sein Material einweben und dabei gleichzeitig überlegene Lässigkeit ausstrahlen?   Nach dieser bisher vielleicht besten Veröffentlichung voller versteckter Perlen, Zeitgeist-Fragen und selbstreferenzieller Albernheiten werden MGMT zumindest für die Fans in der »alten Welt« vorerst wieder in der Verschwiegenheit verschwinden. Immerhin sind für Juni und Juli einige Festivaltermine in Europa festgetackert worden (unter anderem Down The Rabbit Hole in den Niederlanden und das Milano Summer Festival in Italien). Da kann dann jeder für sich entdecken, ob MGMT auch ohne Drogen, ohne Hinterfragen und ohne eine gewisse Angst vor dunklen Zeiten ein unvergessliches Erlebnis bereiten. Wir sind jedenfalls ziemlich zuversichtlich.  

Klaas Tigchelaar // Titelstory. veröffentlicht bei intro                                                                                     29.01.2018


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Calexico

The Thread That Keeps Us
City Slang/Universal

Das Gute an Bands wie Calexico ist, dass man sich bei jedem Album auf den patentierten Sound verlassen kann. Klingt größtenteils wie immer, aber dann doch erstaunlich fröhlich und präsenter als erwartet.


Joey Burns wird mit seiner Band immer noch einbestellt, wenn es um authentisch-kribbeligen Wüstensound zwischen Mariachi und Schepper-Gitarre geht. Darauf könnten sich Calexico auch nach 20 Jahren noch getrost ausruhen. Aber natürlich bringt jedes neue Album eine neue Gemütslage mit sich, die äußeren Umstände verändern sich, und davon will einer wie Burns gerne Zeugnis ablegen.

Ganze 15 Songs entsprangen seinen vielen Wanderungen im Norden Kaliforniens im Frühjahr und Sommer 2017, die schon beim Opener
»End Of The World With You« mit hoffnungsvollen Dur-Akkorden und einem wilden Gitarrensolo in bester J-Mascis-Manier aufhorchen lassen. Auch die Abkehr vom angestammten WaveLab-Tonstudio in Tucson hinein ins Panoramic House mit seiner gigantischen Instrumentenkollektion schuf unerwarteten Mehrwert. Calexico verstehen die Kunst der sanften Modernisierung. Das freudige Geraschel bleibt erhalten, neue Schattierungen jenseits von Cumbia-Elementen und Mariachi-Trompeten bringen spannende Abwechslung und ergänzen die tiefgründigen Texte um private und politische Ängste mit ehrfurchtsvoller Gelassenheit. Hier wirkt noch lange nichts verbraucht.

 

Klaas Tigchelaar // veröffentlicht bei intro                                                                                                        21.01.2018


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Rosemary & Garlic

Rosemary & Garlic
Nettwerk/Warner

Rosemary & Garlic spielen schwebenden Klavier- und Electro-Folk, dessen entrückte Zaghaftigkeit viel Aufmerksamkeit braucht, um überhaupt einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.


Das Duo Anne van den Hoogen und Dolf Smolenaers aus den Niederlanden hat seit seiner Zusammenkunft 2014 schon ein paar Lobhudeleien sammeln können. Die erste EP »The Kingfisher« fand internationale Beachtung, der darauf enthaltene Song »Old Now« wurde über sieben Millionen Mal gestreamt – so weit die Fakten. Trotzdem wird es mit dem Debütalbum nun ernst, denn leider schaffen die Sängerin/Gitarristin und der Soundtüftler es nicht, über zehn Songs lang durchgängig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das liegt nicht nur an der klanglichen Ausrichtung (nennen wir sie Dream-Folk), sondern auch an der zaghaften Umsetzung.

Reichlich verhuscht klammern sich die Klavierakkorde an van den Hoogens liebliche, aber wenig präsente Stimme. »Birds« erinnert an die Elfenhaftigkeit von Tori Amos, lässt jedoch die zugehörige Exzentrik vermissen. Es fehlen einprägsame Kanten, zu oft flirrt das Piano mit dem verhallten Gesang schüchtern durch den Raum. Unbestimmtheit kann auch fesselnd sein, wie Bon Iver oder Sufjan Stevens beweisen, aber dafür fehlt dieser Band momentan noch die Willensstärke.

 

Klaas Tigchelaar // veröffentlicht bei intro                                                                                                        11.01.2018


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Black Rebel Motorcycle Club

Wrong Creatures
PIAS/Coop/Apstract Dragon/Rough Trade

Die vier Jahre nach dem letzten Album hat der BRMC vor allem mit Gesundheitspflege verbracht. Was mitunter auch die Kreativtät beflügeln kann. Die neue Platte heißt »Wrong Creatures«.


Tourstress, Studioproduktionen und die ewig rotierende Promotion-Maschine können Bands auf lange Sicht ganz schön verschleißen. Beim BRMC war nach dem Ende der letzten Tour ein abrupter Halt schlicht unabdingbar. Schlagzeugerin Leah Shapiro musste sich einer Gehirnoperation unterziehen, während Robert und Peter mit ihren Dämonen kämpften.

»I know I’ve battled on and off with mental depression, and Pete’s head never came with any proper instructions«, so Robert nicht ganz ohne Ironie. Nachdem alle im Sommer 2015 wieder auf der Höhe waren, wurde mit den Aufnahmen zu »Wrong Creatures« begonnen, unterstützt von Produzent Nick Launay (Grinderman, Arcade Fire, Nick Cave). Klanglich hat die Zusammenarbeit dezente Spuren hinterlassen, obwohl das Trio nach wie vor der souveränen Variante des schmerzverwöhnten Lederjacken-Gitarrenrocks treu bleibt.

Die progressiv-lauten Töne sind weniger geworden, ohne der fantastischen Akustik-Depression »Howl« von 2015 nachzueifern. Das Gesamtbild wirkt schlicht eine Nuance getragener, nachdenklicher und fängt hin und wieder gar einen Funken der Nick Cave-Melancholie ein. Was sich schlichtweg ziemlich gut in die Liste der Veröffentlichungen des Clubs einfügt.

 

Klaas Tigchelaar // veröffentlicht bei Klenkes                                                                                                  08.01.2018


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Alte Bekannte

Wir sind da!
Pavement Records

Was nach den Wise Guys kommt: Dän Dickkopf, Nils Olfert, Björn Sterzenbach, Clemens Schmuck und Ingo Wolfgarten sind Alte Bekannte.

 

Die Wise Guys sind zurück, zumindest fast. Nach dem Weggang von Andrea Figallo und Gründungsmitglied Eddi Hüneke wollte die erfolgreichste A-cappella-Band Deutschlands einen Schlussstrich ziehen. Mit neuem Namen und aufgefrischter Quintett-Besetzung präsentieren die Kölner neue Mitsing-Songs, nur mit Stimmen und ohne Instrumente. Die neu arrangierte Formation nennt sich treffend Alte Bekannte und ihr erstes Album »Wir sind da!«.

Nach dem Abschiedskonzert im Kölner Tanzbrunnen im Juli 2017 war klar, dass die Wise Guys Geschichte sind. Bereits mit dem Ausstieg von Andrea Figallo (der Ferenc Husta ersetzt hatte) im Jahr zuvor wurden erste Risse im Bandgefüge deutlich. Mit dem darauffolgenden Abschied von Gründungsmitglied Edzard »Eddi« Hüneke schien nach 15 Alben, 250 Songs und mehr 3.000 Konzerten dann endgültig die Zeit für etwas Neues gekommen.

 

Hinter den Kulissen war die Trennung womöglich nicht so harmonisch, wie es die Band zu vermitteln versuchte. Mit den ehemaligen Mitgliedern habe er derzeit keinen Kontakt, erklärte Gründungsmitglied und Haupt-Texter Daniel »Dän« Dickkopf dem »Kölner Stadt-Anzeiger« noch im Dezember 2017 - das zwischenmenschliche Verhältnis sei am Ende doch »ziemlich verfahren« gewesen.

 

Eddi Hüneke, der auch schon als Buchautor (»Jetzt ist deine Zeit«) in Erscheinung getreten ist, tritt 2018 als Singer-Songwriter alleine auf. Die verbliebenen Wise Guys, also Dän Dickkopf (Bariton, Vocal Percussion), Nils Olfert (Tenor) und Björn Sterzenbach (Bass, Vocal Percussion), formen nun mit Clemens Schmuck (Bariton, Vocal Percussion) und Ingo Wolfgarten (Bartion) die neue Band Alte Bekannte. Nach wie vor konzentriert sich das Quintett auf Vokalmusik. Mehrere Stimmen und gesungene Rhythmen ergeben auch auf »Wir sind da!« einen vollen Chorsound, der eben ganz ohne Instrumente und gegebenenfalls auch ohne Strom auskommt.

 

Dass das erste Album von Alte Bekannte so rasch nach dem Ende der Wise Guys erschienen ist, kann man nachvollziehen. Schließlich muss das Erbe der Vorgängerband aufgefangen werden, ohne dass viele treue Fans verloren gehen. Dahingehend machen Alte Bekannte dann auch wenig falsch: Die Mischung aus alten, bisher unveröffentlichten Songideen und frischen Stil-Elementen wie den Barbershop-Chören in »Kleiner Terrorist« oder den beeindruckenden Beatbox-Rhythmen in »Ich habe kein Tattoo« sollte bei den alten Fans in jedem Fall gut ankommen, und vielleicht lassen sich damit auch noch ein paar neue Anhänger gewinnen.

 

Klaas Tigchelaar // veröffentlicht bei msn Unterhaltung                                                                               03.01.2018


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A Certain Ratio

Various Reissues
Mute/Rough Trade

Die Postpunk-Ästheten der späten siebziger Jahre sind zurück. Fans dürfen sich auf ausgewählte Konzerte (März bis Mai 2018) in einigen britischen Städten und über zahlreiche Wiederveröffentlichungen freuen.

 

Ob tatsächlich alle bisher veröffentlichten Alben von A Certain Ratio neu aufgelegt werden, bleibt zwar abzuwarten (u.a. sind auch Box-Sets mit raren Kassettenveröffentlichungen, B-Seiten und unveröffentlichten Stücken angekündigt), den Anfang machen jedenfalls erstmal die Alben »The Graveyard And The Ballroom« (das Debüt von 1979) sowie »To Each« (1981) und »Force« (1986). Glücklicherweise hat man sich die üblichen Mehrwert-Hudeleien wie »remastered« oder »neu abgemischt« geschenkt und konzentriert sich schlicht auf eine annähernd originalgetreue Neuauflage. Das Debüt kommt als limitierte Vinyl-Edition (mit farbigem PVC-Sleeve) mit beiliegender Audiokassette daher, die nachfolgenden Alben erscheinen jeweils auf farbigem Vinyl. CDs gibt es natürlich auch. Und da die Band aus Manchester nie einen wirklichen Hit hatte, kann man den Sell Out-Vorwurf direkt wieder einpacken. Aber sie waren einer der ersten Acts auf dem Kultlabel Factory Records. Die Talking Heads, Happy Mondays oder James Murphy von LCD Soundsystem berufen sich gerne auf ACR als wichtigen Einfluss, der dem Punk einen ekstatischen und funkigen Übergang in das elektronische Zeitalter der 1980er-Jahre bereitete. Klingt beim erneuten Hören natürlich ein bisschen wie aus der Zeit gefallen, hat aber trotzdem nichts von seinem faszinierenden Tiefgang verloren.

 

Klaas Tigchelaar // veröffentlicht bei Schnüss                                                                                                 02.01.2018