MUSIK

Sleater-Kinney

The Center Won't Hold
Caroline/Universal/VÖ: 16.08.2019

Nach ihrer Gründung 1994 wurden Corin Tucker (Gesang, Gitarre), Carrie Brownstein (Gesang, Gitarre) und Janet Weiss (Schlagzeug) mit ihrer Band Sleater-Kinney ziemlich schnell als Impulsgeber der damaligen Frauen- und Riot-Grrrl-Bewegung identifiziert - neben Bikini Kill, Le Tigre und Team Dresch. Ihre Auftritte waren immer musikalische Faustschläge und zugleich feministische Statements.

 

Nach einer Bandpause ab 2006 und der Reunion 2014 finden Sleater-Kinney sich in einer neuen Welt wieder - einer Welt, die von Neuem ihren Kampfgeist weckt, wie man auf "The Center Won't Hold" hört.

 

Annie Clark alias St. Vincent, seit Jahren ein Vorbild für viele Frauen im Musikbusiness, produzierte das inzwischen zehnte Album von Sleater-Kinney und verpasste der Band einen melancholischen, muskulösen und chaotischen neuen Sound. "Ich glaube, für Carrie und Corin war es befreiend, eine neue Klangpalette zu erkunden", erzählt Janet Weiss in der Presseinfo zur neuen Platte. Annie Clark habe "viel Erfahrung darin, ihren eigenen Sound aus Keyboards und Synthesizern zu erschaffen, also konnte sie unsere Lotsin dabei sein, auch diese neue Klangfläche mit Leben zu füllen und uns trotzdem noch wie Sleater-Kinney klingen zu lassen."

 

Einen herben Beigeschmack hat der musikalische Richtungswechsel allerdings schon jetzt: Janet Weiss verkündete Anfang Juli über einen Socal-Media-Beitrag ihren Ausstieg bei Sleater-Kinney. "Die Band schlägt eine neue Richtung ein, und für mich wird es Zeit, weiterzuziehen", erklärte sie darin. Das neue Album war zu dem Zeitpunkt bereits fertig.

Brachial, kämpferisch, mitreißend

 

Auch wenn der neue Weg nicht Weiss' Weg ist: Der Opener und Titelgeber der Platte, "The Center Won't Hold", macht durch seinen metallisch-hämmernden Rhythmus, bedrohliches Bass-Wummern und die typischen ekstatischen Gesangsstimmen schnell deutlich, dass mit Annie Clark und Sleater-Kinney musikalische Schwestern im Geiste zusammengefunden haben. Der punkige Sound der Band, schon immer ruppig, sperrig und zugleich melodiös, wird auf dem neuen Album konsequent weitergedacht. Alles wirkt fetter, dunkler und kleinteiliger, gleichzeitig gibt es aber immer auch den richtigen Hook, um die Hörer bei Laune zu halten.

 

Anstelle der kurzen, prägnanten Songs früherer Tage wurden facettenreiche Klangmonster geformt, die das nach den Präsidentschaftswahlen in den USA entstandene Chaos musikalisch wie textlich kommentieren. Schleppend-perkussive Songs wie "Ruins" tragen dröhnende Synthesizer mit sich herum, hoffnungsvolle Hymnen wie "The Dog The Body" setzen auf Einfühlsamkeit und poppige Unbeschwertheit.

 

Sleater-Kinney klingen jetzt anders, das neue Album ist aber durchaus nicht als Abkehr von der alten Szene, den alten Fans oder der Peer-Group zu werten. Die Gitarren wurden reduziert, Elektronik wurde integriert, Annie Clark setzt mit beißenden Störgeräuschen prägnante Markierungen, aber Sleater-Kinney verlieren nie ihren eigenen Charakter auf diesem brachialen, zeitgemäßen, kämpferischen und mitreißenden Album. Man darf gespannt sein, wie es mit der vorerst zum Duo geschrumpften Band weitergeht.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht in Mittelbayerische Zeitung                                                           14.08.2019


MUSIK

Joyero

Release The Dogs
Merge/Cargo/VÖ: 23.08.2019

Andy Stack ist ein Unbekannter. Zwar kann er sich als Mitglied von Wye Oak (gemeinsam mit Jenn Wasner) für sein präzises, paralleles Spiel von Schlagzeug und Synthesizer beruhigt auf die Schulter klopfen, wie auch für seine Zusammenarbeit mit Lambchop, Helado Negro und El Vy. Aber bis eben gerade war er kein Solo-Künstler, dessen Namen man sich merken sollte.

 

Mit »Release The Dogs« muss sich das ändern. Der Multiinstrumentalist präsentiert neun frische Songs und tritt auch erstmals als Sänger in Erscheinung. Was nicht so sehr in den Vordergrund gerückt werden muss, wie sein verzwickt-grooviges Songconcepting, dass auch einige Rückschlüsse auf die vergangenen Kollaborationen offenbart.

 

Vertrackter Electro-Pop, der sehr rhythmusorientiert und leicht verkopft Pop-Bestandteile seziert. Die Grazie von Wye Oak ist auch hier zu spüren, verwischt in Songs wie »Stars« zu einer passiven Glückseligkeit, die sich in Loops und hymnisch-verwaschenen Gesangsstrophen auf der Couch wegtragen lässt.

 

Schon nach kurzer Zeit merkt man, dass Mr. Stack sein Handwerk beherrscht, mit Herzblut bei der Sache ist, und diese Platte ein bisschen Zeit und Hingebung braucht, bis die gefälligen Melodiebögen inmitten von Sounds und Rhythmus-Kombinationen ihre Ohrwurm-Qualitäten aufblättern. Ein erstaunlich souveränes Erstlingswerk, dass seine Qualitäten so dezent offenbart, wie Stack seine eigene Erscheinung in der Öffentlichkeit präsentiert.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              10.08.2019


MUSIK

P.P. Arnold

The New Adventures Of...
Earmusic/Edel/VÖ: 09.08.2019

Es sind nicht immer nur die Musiker im Rampenlicht, die Musikgeschichte schreiben. Denn wer kann schon von sich behaupten als Sängerin mit Tina Turner, Mick Jagger, Eric Clapton, Billy Ocean, Peter Gabriel, The KLF uvvm. zusammengearbeitet zu haben, und trotzdem auf der Straße nicht erkannt zu werden? P.P. Arnold kann das wohl von sich sagen, und bringt nun nach 51 (!) Jahren ein neues eigenes Album raus.

 

Ja, es regnet Superlativen bei der 72-Jährigen Soulsängerin Patricia Ann Cole, alias P.P. Arnold, die im Oktober 1946 in Los Angeles geboren wurde. Sie war Mitglied der Backingband The Ikettes von Ike & Tina Turner, nahm mit sehr vielen Stars aus den letzten 50 Jahren Popgeschichte Erfolgstitel als Backgroundsängerin auf und veröffentlichte obendrein zwei eigene Alben auf dem Kultlabel Immediate des Rolling Stones Managers Andrew Loog Oldham. Ihr Debüt „The First Lady of Immediate“ (1967) wurde von Mick Jagger und Mike Hurst produziert und landete mit dem Cat Stevens-Song „The First Cut Is the Deepest“ einen weltweiten Hit. Angeblich hat Stevens den vorher unveröffentlichten Song damals für 30 britische Pfund an Arnold verkauft. Sie begleitete Nick Drake im Studio, nahm mit Dr. John auf und unterstützte Peter Gabriel mit ihrer glasklaren Stimme bei „Sledgehammer“. Die Liste ließe sich noch ewig weiterführen.

 

Dem Engagement von Steve Cradocks (Ocean Colour Scene, Paul Weller Band) als Fan und Produzent ist es zu verdanken, dass P.P. Arnold nun nach über fünf Jahrzehnten ohne eigene Veröffentlichung ein neues Album herausbringt, welches souverän an die ersten zwei Soloalben anknüpft. Enthalten sind neue Songs von Arnold und von Cradock, zwei Paul Weller Songs („When I Was Part Of Your Picture“ und „Shoot The Dove“) und eine zehnminütige Interpretation von Bob Dylans Gedicht „The Last Thoughts On Woody Guthrie“.

 

Einige Ideen lagen schon Jahrzehnte in der Schublade, aber weil P.P. Arnold dann mit Roger Waters auf Tour ging hatte sie die Songideen nicht weiter verfolgt – glücklicherweise fand Cradock sie wieder und schaffte es, Arnold zu neuen Aufnahmen zu bewegen. „Selbst jetzt versuche ich immer noch meinen Weg zu finden, weil die Industrie sich jedes Jahrzehnt verändert, und manchmal bleibt man dabei persönlich ein wenig auf der Strecke“, wird P.P. im Presseinfo zur Platte zitiert.

 

Ihrer Stimme haben die Jahre offensichtlich nicht geschadet, das Timbre zwischen Gospelchor und Orchester-Soul ist frisch, knackig und strahlt geradezu vor Lebensfreude, egal ob das Songmaterial in Richtung Sunshine-Pop („The Magic Hour“), oder gefühlvoll-intoniertem Soul mit bombastischen Chor-Refrains („Though It Hurts Me Badly“) tendiert. Ein souveränes Retro-Soulalbum, mit dem der heimlichen Legende unter den Background-Sängerinnen zumindest ein wenig späte Ehre erwiesen wird.

 

Klaas Tigchelaar// Veröffentlicht bei MSN                                                                                                   07.08.2019


MUSIK

Heather Nova

Pearl
OMN Label Services/Rough Trade/VÖ: 28.06.2019

Nach 25 Jahren schließt sich der Kreis zu ihrem Erfolgsalbum »Oyster«, das 1994 den großen Durchbruch bedeutete. Und es ist mehr als bloß eine namentliche Verbindung, mehr als die erneute Zusammenarbeit mit Förderer und Produzent Martin »Youth« Glover (Produzent für u.a. Tom Jones, The Orb, Paul McCartney und auch Bassist von Killing Joke), die dieses zehnte Album der bermudischen Sängerin, Gitarristin, Songwriterin und Dichterin besonders macht.

 

Es sind elf großartige Songs, die völlig unaufdringlich die sirenenhafte gesangliche Leidensfähigkeit von Nova mit poetischen Texten und zeitgemäßen Post-Folk- und Americana-Sounds kombinieren. Keine Ohrwurm-Hits wie »Walk This World«, oder überladene Streicher-Arrangements, die die zwischenzeitlich erschienenen Alben kennzeichneten, sondern einfach strukturierte, bisweilen todtraurige Songs mit einer starken textlichen Verbindung zur Natur.

 

»Don’t Worry What The Experts Say« erinnert vage an Neil Youngs »Harvest«, während »All The Rivers« in seiner aufpeitschenden und gehauchten Verzweiflung an die britische Geheimtipp-Band Salad erinnert. Cleveres Bindeglied ist in vielen Songs der knurrend-angezerrte Bass, dem auch gelegentlich die Rolle des verzierenden Solo-Instruments zufällt, während die Gitarren sich mit Slide-Passagen, Tremolo- und Hall-Effekten aus der Nashville-Trickkiste begnügen. Stimmlich mitreißend, opulent, aber nie übertrieben arrangiert, mit vielen erkundbaren Tiefen, die »Pearl« zu weit mehr als einem würdigen Nachfolger von »Oyster« machen.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              10.08.2019


MUSIK

Jessca Hoop

Stonechild
Memphis Industries/Indigo/VÖ: 05.07.2019

 

Abseits der allgemeinen Lieblichkeit von Folkmusik tun sich in den Texten oft große Abgründe auf. Für die Singer-Songwriterin Jesca Hoop wird es schon beim Titel recht dunkel, das Steinkind, auch Lithopädion genannt, bezeichnet einen abgestorbenen, versteinerten Fötus im Mutterleib, der durch die Aufnahme von Kalk eingekapselt und mumifiziert wird.

 

Viele Worte für einen kurzen Titel, aber von diesen düsteren Gedanken zur Mutterschaft, zum Nachwuchs und zu den nimmer endenden Zwisten zwischen den Geschlechtern hat Hoop viel Poesie getextet.

 

Ihre sanfte, prägnante und höchst variable Stimme wird diesmal von nicht viel mehr als einer gezupften Gitarre begleitet, die Stimmungsmache im Hintergrund übernehmen elektronische Sounds, die so dezent eingeblendet werden, dass sie in den Chorarrangements kaum auffallen. Das ist wohl auch so gewollt, Produzent John Parish (PJ Harvey, This Is The Kit) und Hoop selbst haben hier ein sehr sanftes, intensiv-schmerzhaftes Folk-Album geschaffen, dass sich weitab vom gängigen Mainstream-Akustiksound (»not in that old ye folk type of way«, wie sie es ausdrückt) bewegt, der derzeit durchaus angesagt ist.

 

Im Gegensatz zum dagegen beinahe opulenten Vorgänger »Memories Are Now« (2017) und der ebenfalls sehr empfehlenswerten Kollabo mit Sam Beam/Iron&Wine »Love Letter For Fire« (2016) eher ein Album für Kopfhörer, Kerzenlicht und herrlich zehrendes Selbstmitleid – was hier ausdrücklich positiv besetzt ist.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              10.08.2019


MUSIK

Grossstadtgeflüster

Trips & Ticks
BMG/Warner/VÖ: 16.08.2019

 Bandinfos sind meist austauschbare Lobhudeleien mit vielen Superlativen und ranzigen Allgemeinplätzen. Bei den »Zerstörungstheoretikerin*innen« von Grossstadtgeflüster aus Berlin möchte man dagegen stetig kichernd gerne fast jeden zweiten Satz daraus übernehmen.

 

Und Fan sollte man nicht erst seit dem viralen Megahit »Fickt-Euch-Allee« von 2015 sein, sondern mindestens seit »Ich muss gar nix« von 2006. Wenn man annähernd so cool sein will wie Sängerin/Rapperin/Texterin Jen Bender und die Musikderwische Raphael Schalz und Chriz Falk. Klappt aber eh nie. Denn ihr klamaukig-genialer Electropop mit Schranz-Gelüsten fegt nicht nur textlich fast alles andere derzeit erhältliche deutschsprachige Musikzeugs weg, sondern spielt auch musikalisch souverän mit Stilen wie Pop, Trap, EDM, Punk und HipHop – und der Tatsache, dass Trial-And-Error im Heimstudio manchmal besondere Perlen hervorbringt.

 

»Ich bin zwar tot, aber ich hatte Vorfahrt« (»Skalitzer Strasse«), oder »Lass meinen Sack von Keinohrhasen und Til Schweiger tragen, die Engel singen für mich in drei Oktaven Firestarter« (»Feierabend«) sind nur Fragmente aus gekonnt-gerappten Textbomben, die unvoreingenommen mit HipHop-Beats oder auch NDW-Synthesizern paktieren. Eine irrsinnig lustige Entdeckungsreise mit Hit-Garantie, zu der auch noch Features von Danger Dan und HGich.T gehören. Was für ein Glück, dass es diese Band gibt, demnächst unbedingt auf einem Festival anhören und begaffen.

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht in Stadtmagazin Klenkes                                                                19.08.2019