MUSIK
Kanye West
Jesus Is King
Getting Out Our Dreams/Def Jam/VÖ: 25.10.2019
Ist es ein wahnhaftes Gospel-Album geworden oder doch eine musikalische Offenbarung als Teil einer größeren künstlerischen Idee? Kanye West definiert mit "Jesus Is King" den Irrsinn der Superstarwelt und lässt viel Raum für Fragen und Vermutungen.
Der Titel ist derart plakativ, dass man das neunte Studioalbum von Kanye West gemeinsam mit dem gleichnamigen, begleitenden Kurzfilm eigentlich schnell abheften könnte: Der Hip-Hop-Superstar hat zu Gott gefunden und ein Gospel-Album aufgenommen. Doch "Jesus Is King" repräsentiert weit mehr als das. Zwischen dem Celebrity-Paralleluniversum, gelungenen Songs und Ironie hat West einen Weg gefunden, den Superstar-Alltag zu kanalisieren.
Ohne Mühe könnte man über das neue Album von Kanye West einen informativen und spannenden, längeren Artikel schreiben, ohne auch nur ein Wort über die enthaltene Musik zu verlieren. Denn der Hype innerhalb der Star-Welt von Kanye Omari West ist schon vor einigen Jahren implodiert. Spätestens seit nicht nur die Musik und das Produzententum, sondern auch etwas scheinbar Höheres, nicht zwingend Religiöses seine Zuwendung in Beschlag genommen hat.
Nach über 60 Millionen verkauften Tonträgern, Platz 84 auf der Liste der größten Songwriter aller Zeiten im Magazin "Rolling Stone" und der Ehe mit Influencerin Kim Kardashian wohl eine nachvollziehbare Reaktion. Gleichzeitig der schwierige Versuch, die Glamourwelt, den Kommerz und die künstlerische Integrität im Hip-Hop-Geschäft unter einen Hut zu bringen.
Um zum Album vorzudringen, muss man den 30-minütigen Film "Jesus Is King" genauso ignorieren wie die mehrmalige Verschiebung der Veröffentlichungstermine von Film
und Album, die von West seit Anfang 2019 veranstalteten Gospel-Messen mit dem 80-köpfigem Chor namens "Sunday Service" und auch die "Prestige Theory" des US-Radiomoderators Spencer Wolff, nach
der Kanye West nicht verrückt sei, sondern an einem der größten Performance-Art-Stücke unserer Zeit arbeite.
Dies nimmt u.a. wiederum Bezug auf Kanyes Sympathiebekundungen für Präsident Trump, die Alt-Right-Bewegung und seine fragwürdigen Aussagen zum Thema
Sklaverei.
Diese Aspekte sind zwar wichtige Bestandteile des West-Universums. Doch losgelöst davon ist das mit 27 Minuten erstaunlich kurze Album schlicht ein musikalisches Meisterwerk, das diese Gegensätze, Überhöhungen und Erwartungshaltungen genial gegeneinander ausspielt.
Der fetzige Sunday Service Choir eröffnet mit "Every Hour" in bester Gospel-Manier, lediglich vom ekstatisch malträtierten Klavier begleitet, rutscht mit einer majestätischen Hammond-Orgel auf "Selah" in Wests präzise Raps, die wie angekündigt frei von Fluchen und Beleidigungen sind, nicht jedoch von nachdenklichen Anklagen, die sich nur oberflächlich mit dem scheinbar wiedergefundenen Glauben befassen.
Weitere Höhepunkte sind der tighte Hip-Hop-Track "Follow God" (über ein souliges Sample von Whole Truths "Can You Lose By Following God" von 1974), das düstere "Closed on Sunday", auf dem Kanye mit samtiger Gesangsstimme glänzt und das mit dreieinhalb Minuten längste Stück "Use This Gospel (feat. Clipse & Kenny G)", das nicht nur fabelhaften Elektropop skizziert, sondern mit einem kitschigen Saxofonsolo von Kenny G am Ende einmal mehr die Frage aufkommen lässt, ob dahinter nun geniales Songwriting oder doch bloß manischer Größenwahn steckt.
Sicher, das Album erstickt beinahe in platten Phrasen, die Jesus, Gott und dem Christentum huldigen. Dazwischen findet sich aber auch Gesellschaftskritik, Gangster-Geprahle (ohne Fäkalsprache) und die Feststellung, dass dieses Album gerade wegen seiner musikalischen Brüche, der stilistischen Ebenen und der Angriffsfläche ein Ereignis darstellt. Ob Kanye tatsächlich am künstlerischen Masterplan tüftelt oder ihn der American Dream so langsam in den Wahnsinn treibt? Nebensache. "Jesus Is King" entfaltet auch ohne diesen Ballast eine musikalische Wucht, die in der Musikgeschichte ihren verdienten Platz einnehmen wird.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht in der Passauer Neue Presse 24.10.2019
MUSIK
Geowulf
My Resignation
PIAS/Rough Trade/VÖ: 25.10.2019
Noch mehr Alternative-Pop aus Australien – was ist da nur los? Geowulf, bestehend aus Star Kendrick und Toma Banjanin hat es in ihrem Nomadendasein mit Stationen in Berlin und Göteborg nun nach London verschlagen, wo ihr selbstdefinierter »Beach Pop« weiter mit dem cremig-verwunschenen Gesang von Sängerin Kendrick und den Synth-Sounds, Wohlkling-Melodien und perlenden Gitarren aus dem Kopf von Komponist Banjanin in Endlosschleife musikalische Gischt erzeugt.
Dieser kurze Moment, in dem alles zu stimmen scheint, das Wetter, die Euphorie, das Wohlempfinden der gesamten Welt – Geowulf scheinen das alles in ihre Songs packen zu wollen. Und deshalb gibt es zwischen der leicht melancholischen Glückseligkeit in ihrem selbstbestimmten Dreampop-Entwurf eine Menge zu entdecken, kleine Geräusche, Harmoniewendungen, Effekte, die diesem zweiten Album eine gewisse Tiefe inmitten der oberflächlichen Popwelt einräumen.
Dass sich dabei gar keine einzelnen Songs als Hits oder Ohrwürmer herausschälen, sollte in diesem Fall gar nicht als negative Feststellung gewertet werden. Vielmehr
gibt »My Resignation« sich dadurch vollends dem Album-Konzept hin, das so mancher Ü30-Musikfetischist mittlerweile bei so vielen Veröffentlichungen vermisst.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss
25.10.2019
MUSIK
Deathprod
Occulting Disk
Smalltown Supersound/Cargo/VÖ: 25.10.2019
Helge Sten, der langjährige Produzent des norwegischen Rock-Monolithen Motorpsycho und unruhig-bärtiger Geist hinter Deathprod, bringt seine erste neue Veröffentlichung seit »Morals And Dogma« aus dem Jahr 2004 heraus.
Aufgenommen wurde dieser kratzende Horrortrip von einer Geräuschcollage zwischen 2012 und 2019 in Oslo, Reykjavik, Berlin, Köln und Los Angeles und spannt den Bogen zwischen Drone-Doom, Electro-Klonk und Liner-Notes von Will Oldham. Ja, die zehn Tracks (überwiegend als »Occultation« mit jeweils fortlaufender Nummer betitelt) sind nicht eben einfach zugänglich, da sie sich völlig vom klassischen Songrahmen gelöst haben.
Ohne Rhythmus- und Zeitgefühl brettern die Sounds in den Raum, Filter-Sweeps, verzerrte Synthesizer-Exkremente und bedrohliches Rauschen, dass einer Horrorfilm-Tonspur oft näher ist, als dem konservativen Musikverständnis.
Mit Dunkelheit, einem Glas Rotwein, Kopfhörern und einer Uhrzeit weit nach Mitternacht wirkt diese Art der progressiven Kunst allerdings wie ein durchrüttelnder
Trip mit beängstigend-einleuchtendem Spannungsbogen.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss
25.10.2019
MUSIK
The Düsseldorf Düsterboys
Nenn mich Musik
Staatsakt/Bertus/Zebralution/VÖ: 25.10.2019
Die Düsseldorf Düsterboys bestehen aus Peter Rubel und Pedro Goncalves Crescenti, die sich sonst auch als International Music musikalisch betätigen.
Und schon vor der Veröffentlichung dieses Debüts machten sie mit ihrem prägnanten Namen die Runde in zahlreichen Feuilletons: Die taz bezeichnete ihre Musik als »Schnauzbartpop« und der Zündfunk zieht Vergleiche mit Hafenschunklern von Hans Albers und Velvet Underground.
Eine punktgenaue und gleichzeitig reichlich absurde Charakterisierung. Auch auf diesem Debüt bleibt dabei stets unklar, wie hoch hier die Ironie-Fahne gehängt werden darf, wenn beispielsweise Elemente der Doors auf Mundorgel-Chöre treffen und die halb gehauchten, halb gesungenen Texte in schneller Abfolge improvisierte Absurditäten aneinanderketten.
Hört man nicht genau hinein, könnten die Düsterboys auch als etwas amateuristische Retro-Schlager-Hintergrundberieselung herhalten, für Menschen die etwas mit wackelnden Nierentischen, orangenen Cordsofas und Pril-Blumen anfangen können.
Ob es dafür allerdings 16 Tracks braucht, die mit Titeln wie »Kaffee aus der Küche«, »Wie ein Henker« oder »Teneriffa (Album Version)« eine schummrige, dadaistisch-sarkastische Humorkeule formen, sollte vielleicht die Shuffle-Funktion in der Smartphone-Playlist eigenmächtig entscheiden.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss 25.10.2019
MUSIK
Ali Barter
Hello, I'm Doing My Best
PIAS/Inertia/Rough Trade/VÖ: 18.10.2019
Diese Australierin rettet den Indie-Rock! Seltsam genug, dass wir da fast von so etwas wie einem Revival reden müssen, schrammelige Gitarren und in-your-face-Gehabe scheinen eben etwas aus der Mode gekommen zu sein.
Barter nannte für ihr Debütalbum »A Suitable Girl« schon Veruca Salt, Juliana Hatfield und Liz Phair als Einflüsse und die darf man auch für diesen Zweitling selbstverständlich als Vergleich heranziehen. Da in den letzten 20 Jahre überdies bezüglich der Studiotechnik einige Fortschritte gemacht wurden (und vieles sehr viel preiswerter geworden ist), klingt »Hello, I’m Doing My Best« obendrein bombastischer und lauter als es die Vorbilder zu ihrer Zeit hätten umsetzen können.
Neben der fröhlichen Vollgas-Indierock-Hymne des Jahres »Ur A Piece Of Shit« zeigen auch Mid-Temposongs wie »Big Ones« oder das an exaltiert-aufspielende Smashing Pumpkins erinnernde »This Girl«, dass eine angenehm-präsente Stimme, ein paar gute Harmonien und gutes Songwriting die Popmusik weiterhin definieren – egal ob Folk-Picking oder eine E-Gitarrenwand die Nachhut dafür bilden.
Ein rundum gelungenes, abwechslungsreiches Album, das in seiner eigenen Nische schon jetzt auf den vorderen Plätzen der Jahrescharts verharren darf.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss 18.10.2019
MUSIK
Mando Diao
Bang
Playground Music/Cargo/VÖ: 18.10.2019
Gitarren sind out? Nicht bei Mando Diao - oder nicht mehr: Die Schweden schwimmen auf "Bang" gegen den Synthie-Trend und verlieben sich nach einer eigenen musikalisch diffusen Phase von Neuem in das Rock-Riff.
Sie waren der Inbegriff des schwedischen Rocksounds der 2000er-Jahre und schufen mit "Dance With Somebody" und "Black Saturday" Hits für die Ewigkeit. Doch auch für Mando Diao ist Erfolg endlich. Kommerziell konnte die Band mit den letzten Alben nicht mehr an die Glanztaten früherer Tage anschließen. Zudem verloren Mando Diao mit dem Weggang von Gitarrist und Sänger Gustaf Norén 2015 ein wichtiges Gründungsmitglied. Mit "Bang" setzt die Gruppe nun zu einem Befreiungsschlag an. Mando Diao klingen auf ihrem neunten Langspieler frisch, unverkrampft und erlöst von allen Rückschlägen der letzten Jahre.
Der Albumtitel ließe zunächst eine weitere thematisch fixierte Platte zu den derzeitigen Diskursthemen Klimawandel, Terrorismus und Verrohung der (digitalen) Gesellschaft vermuten. Aber hier geht es tatsächlich um etwas anderes, nämlich den emotionalen Knall im Rock'n'Roll-Sinne. Die Band um den verbliebenen Bandgründer, Sänger und Gitarristen Björn Dixgård konzentrierte sich nach dessen Aussage zuletzt primär auf die Musik, die Gitarrenriffs und die Explosivität des Moments: "Wir möchten Menschen dazu inspirieren, sich zu trauen, so frei wie nur möglich zu sein", lässt Dixgård sich im Pressetext zitieren. "Wir haben hier keinerlei Gefühle zurückgehalten", ist er überzeugt, und: "Was wir hier singen, meinen wir auch genau so. Es fühlt sich sehr befreiend an, die Dinge beim Namen zu nennen."
"Don't Tell Me" ist einer dieser Songs mit einer eindeutigen Botschaft. Zu groovigem Retro-Beat und Fuzz-Gitarrenriff erklärt Dixgård, wie wichtig es ist, Menschen zu respektieren, aber dass man den Autoritäten auch nicht blind gehorchen sollte. Auch "Get Free", ein Song über die Freiheit, basiert auf einem knackigen Gitarrenriff und Björns kratziger Stimmgewalt. Der wuchtige Blues-Stampfer "I Was Blind" schlägt textlich und musikalisch in eine ähnliche Kerbe.
Mando Diao haben auf "Bang" ihre wunderbar ungehobelten 70er-Fuzzrock-Einflüsse wiedergefunden sowie charmante Hooklines und knackige Gitarrenriffs vereint. Damit kehren sie auch ein wenig vom synthetischen Sound und der Chartorientierung der vergangenen Alben ab. Das Ergebnis ist eine Platte, die eingängig klingt und von großer Spielfreude zeugt.
Bei dem trockenen Schlagzeugauftakt und dem sanft hereinfließenden Blues-Gitarrenriff von "Scream For You" fühlt man sich fast ein wenig an frühe Werke von ZZ Top und Creedence Clearwater Revival erinnert. Vor allem hier glaubt man gemäß Dixgårds Erklärung, dass Mando Diao sich tatsächlich nur auf sich selbst und das gute Gefühl beim Songwriting und den anschließenden Aufnahmen fokussierten. So finden nun alle Nachwuchsgitarristen eine Menge cooler Riffs zum Nachspielen, und die alternden Rockfans und verbliebenen Gitarrenmusikdiskotheken können ihre Plattenbestände mit einem überzeugenden, mitreißenden neuen Album aufstocken - so oft kommt das dieser Tage nicht mehr vor.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht in der Mittelbayerische Zeitung 18.10.2019
MUSIK
Konstantin Wecker
Weltenbrand
Sturm und Klang/Al!ve/VÖ: 11.10.2019
Er habe schon immer davon geträumt, ein ganzes Album mit einem Orchester aufzunehmen: Mit "Weltenbrand" hebt Konstantin Wecker seine Protest- und Mahnlieder auf ein neues Level.
Wenn es darum geht, gesellschaftliche Probleme und Missstände zu sezieren, war Konstantin Wecker schon immer eine kompetente Fachkraft. Seit jeher setzt er sich als Liedermacher, Komponist und Autor für Frieden und Völkerverständigung ein. Dass sein neues Doppelalbum "Weltenbrand", entstanden in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Philharmonie, trotz eigentlich alter Lieder hochaktuell wirkt, ist eigentlich ziemlich traurig.
Schon als der Begriff "Shitstorm" noch nicht in aller Munde war, flogen dem engagierten Münchener regelmäßig allerlei Anfeindungen um die Ohren. Von Rechtsradikalen, Ewiggestrigen und vielen Menschenfeinden, die Konstantin Wecker seit dem Beginn seiner Karriere in den späten 1960-ern anprangert. Zum Verstummen brachte den engagierten Musiker aber niemand, zum Glück. Auch mit inzwischen 72 Jahren wird er laut, wenn es um Kapitalismus, Faschismus, Intoleranz, Krieg und Verfolgung geht.
Mit dem ausufernden Doppelalbum "Weltenbrand", das insgesamt 46 Stücke beinhaltet, hat Wecker aber vor allem sich selbst ein Geschenk gemacht. Schon immer träumte er von einer orchestralen Umsetzung seiner Lieder, wie er der "Rhein-Neckar-Zeitung" vor Kurzem in einem Interview verriet. Mit der Bayerischen Philharmonie unter der Leitung von Mark Mast konnte er diese nun endlich auf Albumlänge realisieren.
Zwölf Musiker aus neun Nationen ergänzen die Wecker-Band, bestehend aus Pianist Jo Barnikel, Cellistin Fany Kammerlander und Gitarrist Severin Trogbacher. Sie bringen seine Kompositionen zu neuer, imposanter Größe. Zudem wurde das Album (dessen Titel sich übrigens auf den gleichnamigen Song bezieht, der auf dem Album "Wut und Zärtlichkeit" von 2011 enthalten ist) im "7.1.4. 3D Immersive Audio"-Format aufgenommen, welches ein außergewöhnliches 3D-Klangerlebnis ermöglicht, sofern die heimische Stereoanlage dafür ausgerüstet ist.
Klassiker wie "Sage nein!", "Warum ich kein Patriot bin" und "Frieden im Land" haben textlich nichts von ihrer Aktualität verloren. "Ich hätte nie gedacht, dass wir an einen Punkt kommen, an dem unsere gewonnene Demokratie zu verfallen droht", klagte Wecker im Zuge der Veröffentlichung. Er ist aber auch davon überzeugt, dass die Lieder mit dem "begeistert aufspielenden" Streicher-, Holz- und Blechbläser-Ensemble zur "Heilung der geschundenen Welt beitragen" können. Für das live vor Publikum aufgenommene Doppelalbum lässt Wecker es sich dann auch nicht nehmen, einige Ansagen zu Liedern wie "Tango Joe" oder "Lied der Lieder" als separate Tracks zu kennzeichnen - die Dringlichkeit der Inhalte macht es nötig.
Die dramatische Schwere, die Wecker schon solo, nur mit Klavier und Stimme, stets zu eigen ist, bekommt mit dem Orchester noch einmal eine ganz neue Dimensionen. Davon dürfen die Fans sich derzeit auch auf der begleitenden Tour überzeugen, für die Wecker mitsamt Orchester noch bis Ende Dezember durch zahllose Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz tourt.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht in der Mittelbayerische Zeitung 11.10.2019
MUSIK
Mikal Cronin
Seeker
Merge/Cargo/VÖ: 25.10.2019
Das letzte Album von Michael »Mikal« Patrick Cronin namens »MCIII« erschien 2015, und seitdem ist eine Menge passiert. Was für einen Singer-Songwriter und Solokünstler eigentlich ideal ist, denn das beschert immer jede Menge Inspiration, die es allerdings zu kanalisieren gilt.
Nach beendeten Tourneen und Beziehungen zog sich Cronin in die Berge von Südkalifornien zurück, um sich in einer entlegenen Hütte von der Stille inspirieren zu lassen – die ihm nebenbei misstrauische Blicke im lokalen Lebensmittelladen und einige Insektenstiche bescherte. Aber eben auch zehn anstandslose Songs, deren Streicher-Arrangements in »Show Me« deutlich an The Verve erinnern.
Die räudig-verzerrten Retrogitarren in »I’ve Got Reason« und das abschließende wie großartige Folk-Geplänkel im kargen »On The Shelf« nehmen gekonnt alle Stilmittel für großartige Gitarre-Bass-Schlagzeug-Popmusik der letzten 50 Jahre mit. Aber warum der Kopie Tribut zollen, wenn man auch die (zahlreichen) Originale haben kann, könnte man jetzt fragen? Weil Cronin es eben auch draufhat, gute Songs zu komponieren, deren Instrumentierung zwar deutliche Zitate bei den Heartbreakers, bei Oasis, bei Neil Young und einigen mehr abgreift, aber trotzdem gute Songs bleiben.
Eine charmante Platte, die das Rad nicht neu erfinden möchte und ganz gemächlich zum heimlichen Liebling werden könnte.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss 10.10.2019
MUSIK
Refused
War Music
Spinefarm/Universal/VÖ: 25.10.2019
Die Schweden um Schreihals Dennis Lyxzén legen weiter nach. Das epochale Hardcore-Album »The Shape Of Punk To Come« von 1998 war ihr deutlichstes Statement, danach löste sich die Band das erste Mal und nach der Reunion-Tour 2012 ein zweites Mal auf. Um dann 2015 mit »Freedom« ein etwas verzweifeltes, drittes Comeback zu starten, kein Hardcore mehr, sondern Rockmusik.
Das größere Problem bleiben ihre (guten) politischen Botschaften, ihr Aufbegehren gegen das System, den Kapitalismus – das wurde bei »The Shape…« nicht verstanden, auch nach der ersten Auflösung nicht. Aber 2019 sind andere Zeiten – die Thunbergisierung der Jugend ist in vollem Gange und dafür braucht es Soundtracks mit Gewalt und Inhalten.
Opener »REV001« oder »Damaged III« erfüllen dafür alle Ansprüche, aber die musikalische Altersmilde lässt sich trotz der ganzen Wut auf Albumlänge nicht so richtig abschütteln. Die Mehrheit der Songs, wie »I Wanna Watch The World Burn«, »Turn The Cross« oder »Malfire«, suhlt sich zu selbstverliebt im 1980er-Spandex-Rock, um der Wut in Lyxzéns Stimme ein ernsthaftes Fundament zu bieten.
Prolliges Gitarrengeriffe und Chorgesänge stehen eben nicht in der Tradition, die ihr ewig glänzender Meilenstein losgetreten hat. Was schlussfolgernd heißen muss, dass auch die alten Männer gerne weiter wütend sein dürfen, aber den Krieg für eine bessere, gerechtere Welt dann doch dem Nachwuchs überlassen sollten – der sich sicherlich längst einen ganz anderen Kriegs-Soundtrack aufs Smartphone gezogen hat.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Klenkes 10.10.2019
MUSIK
Dermot Kennedy
Without Fear
Island/Universal/VÖ: 04.10.2019
Dermot Kennedy wird bisweilen schon als neuer Stern am Singer/Songwriter-Himmel wahrgenommen. Eine ausverkaufte Tour 2018, Streams im Millionenbereich und die Zusammenarbeit mit großen Rap-Produzenten münden nun in einem beatlastigen, aber insgesamt doch recht mutlosen Debütalbum.
Sein Heimatort Rathcoole unweit von Dublin sei für ihn inzwischen vor allem ein Ruhepol, wie Dermot Kennedy über eine Presseseite seines Labels Universal Music erklärt. Hierhin kehrt der 27-jährige Ire zurück, um sich von dem tosenden Erfolg zu erholen, der ihn momentan begleitet. An der Haustür seines Elternhauses in Rathcoole steht "Cois Coille", was auf Gälisch so viel bedeutet wie "am Wald gelegen". In dieser Gegend fanden seine ersten Auftritte als Straßenmusiker statt. Hier liegen seine musikalischen Wurzeln, die gemeinsam mit seiner tiefen, rauen Stimme schon auf vielen Bühnen in Europa und den USA für Begeisterung sorgten.
300 Millionen Streams sammelte Kennedy seit der Veröffentlichung seiner EP "Doves And Ravens" im April 2017. Der Singer/Sonwriter war im Vorprogramm von Lana Del Rey unterwegs und nahm mit Rap-Starproduzent Mike Dean (Kanye West, Travis Scott), der erklärtermaßen Fan des Iren ist, 2018 die EP "Mike Dean Presents: Dermot Kennedy" auf. "Power Over Me", ein Vorbote seines ersten vollwertigen Albums "Without Fear", hielt sich mehrere Monate lang in den deutschen Charts.
"Without Fear" versucht erneut das scheinbar Unmögliche und möchte Kennedys Singer/Songwriter-Qualitäten mit Rap-Beats, Trap-Anleihen, bombastischem Synthpop und großen Emotionen vereinen. Es sind 13 Songs (neben "Power Over Me" sind auch die Singles "Lost" und "Outnumbered" enthalten), die weitestgehend den momentanen Bedürfnissen der Radiocharts und Playlisten entsprechen und denen es leider oft an Mut und Eigenständigkeit mangelt.
Eine charismatische und prägnante Stimme alleine reicht in der heutigen Flut der wohlklingenden, leicht zu verdauenden und oft zum Verwechseln ähnlich klingenden Veröffentlichungen längst nicht mehr, um sich nachhaltig im Gedächtnis der Zuhörer zu verankern. Irgendwo zwischen Welshly Arms, Rag'n'Bone Man und Ed Sheeran ist momentan zwar noch ein bisschen Platz für Kennedy. Um in diesem Umfeld dauerhaft zu bestehen, wird er sich in Zukunft aber wahrscheinlich etwas mehr einfallen lassen müssen als auf "Without Fear".
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht in der Mittelbayerische Zeitung 04.10.2019
MUSIK
Frank Zander
Urgestein
Zett Records/Da Music/VÖ: 04.10.2019
Zahllose Alben, Cover, Fernsehauftritte, dazu eine Fußballhymne und seine legendären Weihnachtsessen für Bedürftige: Frank Zander blickt auf eine äußerst abwechslungsreiche Karriere zurück. Mit "Urgestein" setzt die Unterhaltungsikone sich nun selbst ein Denkmal.
Frank Zander ist mittlerweile 77-Jahre alt, aber langsam einmal einen Gang herunterzuschalten und in Ruhe den angebrochenen Lebensabend zu genießen, kommt für den Kultsänger mit der Reibeisenstimme nicht infrage. Zuletzt gab Zander sich 2015 mit dem Album "Immer noch der Alte" auffallend kämpferisch, und wer jenseits des Rentenalters noch mit so viel Herzblut neue Musik veröffentlicht, den interessieren Meinungen und Kritiken wahrscheinlich ohnehin wenig. "Urgestein" heißt sein selbstbewusst betiteltes neues Album.
Der ewig junggebliebene Blondschopf mit dem prägnanten Schnurrbart und Kinnbärtchen hatte als gelernter Grafiker und Maler nie den Anspruch, edle musikalische Perlen mit großem Tiefgang zu erschaffen. In den vergangenen 50 Jahren machte er vielmehr als großer Entertainer von sich reden, gerne auch mit albernen Zwischentönen. "Ja, wenn wir alle Englein wären" von 1981 nahm sich den berühmten "Ententanz" (im Original "Dance Little Bird") zum Vorbild, 1982 persiflierte er mit "Da, da, da, ich weiß Bescheid, du weißt Bescheid" einen der Hits von Trio. Für die eigene Nummer "Oh, Susi (der zensierte Song)" von 1976 wurde er immerhin mit dem bronzenen "Bravo Otto" ausgezeichnet, aber sein größter musikalischer Erfolg ist wohl eher die Hymne des Berliner Fußballclubs Hertha BSC, "Nur nach Hause (geh'n wir nicht)" (basierend auf "Sailing" von Rod Stewart), die seit 1993 vor und nach jedem Heimspiel im Stadion läuft.
Auf "Urgestein", Zanders 21. Studioalbum, gibt es keine Experimente, sondern den für ihn typischen Mix aus Schlager, Synthpop und Folk-Elementen - und dazu natürlich auch wieder Coverversionen wie "Tanze Eileen" ("Come On Eileen" von Dexys Midnight Runners), die mit modernen Beats aufgepumpt wurden. Zu gefühligen Synthesizer-Geigen und Klavierflächen zeigt Zander in "Ich habe noch lange nicht genug" zudem seine sozialkritische Seite, die auch in "Muss es erst so richtig wehtun" im Vordergrund steht. Zander bleibt ein Künstler, der soziale Missstände genau im Blick hat. Seit mittlerweile 25 Jahren feiert er jedes Jahr im Estrel Hotel Berlin mit 3.000 Obdachlosen und Bedürftigen das Weihnachtsfest, ohne dieses Engagement an die große Glocke zu hängen. Auch dieses Jahr wird er wieder dort sein.
Neben rockigen Songs wie "Ich bin der Größte" (eine neue Interpretation des alten Zander-Songs von 1973, diesmal dem verstorbenen Gunter Gabriel gewidmet) hat nicht zuletzt auch die Albernheit wieder ihren Platz auf diesem Album gefunden. "Vegan Vampire" und "Warte ich komme" sind zwei neue Songs aus dieser Rubrik, "Blut und Alkohol" dagegen ist eine Neuaufnahme seiner raren Coverversion von "Milk And Alcohol" (ursprünglich von Dr. Feelgood), die 1980 als B-Seite auf der Vinyl-Single "Crazy Harry" enthalten war. Aber auch mit den ein, zwei aufgewärmten Songs zeigt diese Platte: Frank Zander, der nach wie vor viele treue Fans hinter sich weiß, ist so vital und kreativ bei der Sache wie eh und je.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht in der Mittelbayerische Zeitung 02.10.2019