MUSIK

Squirrel Flower

I Was Born Swimming
Full Time Hobby/Rough Trade/VÖ: 31.01.2020

Im Gegensatz zu vielen anderen jungen Künstlern musste sich Singer-Songwriterin Ella O’Connor Williams keine Sorgen darum machen, dass ihre Eltern ihrer »Künstlerkarriere« mit dem Projekt Squirrel Flower spießig im Weg stehen würden.

 

Denn die Williams-Familie ist beinahe so etwas wie eine Musiker-Dynastie: Die Großeltern spielten klassische Musik, ihr Vater ist als Jazz- und Bluesmusiker und Dozent unterwegs (und spielt auf diesem Album vorzügliche E-Bass-Linien), Ella wurde sozusagen von Geburt an mit den Vorzügen und Nachteilen des harten Musikerlebens konfrontiert. Nach ersten Gehversuchen in der Bostoner DIY- und Folkmusikszene und einem Studium der Musiktheorie am Grinnell College für freie Künste hat sie für Squirrel Flower alte und neue Songs zusammengetragen, die Produzent Gabe Wax (Cass McCombs, Palehound) zu einem prasselnden Indie-Folkrock-Album verdichtet hat.

 

Eine kratzige E-Gitarre, die sich in Zeitlupe auf »Red Shoulder« durch das bombastische Rythmusfundament fräst, gestreichelte Akustikgitarren, die in »Slapback« und »Flower Home« stockendes Innehalten provozieren – stilistisch wird hier ein weites Feld abgedeckt, dass sich doch in der Indie-Schublade gut unterbringen lässt. Irgendwo zwischen der dramatischen Traurigkeit von Bon Iver, der Aura von Laura Marling oder Joni Mitchell und einer wütenden Rock-Dringlichkeit hinterlässt dieses Debüt ohne Umschweife einen äußerst angenehmen Eindruck.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              31.01.2020


MUSIK

Male

Zensur & Zensur (Limited Edition)
Tapete/Indigo/VÖ: 24.01.2020

Als die Düsseldorfer Jungs (nach so mancher Expertenmeinung die erste deutsche Punkband überhaupt) von Male dieses Stück Kulturgut 1979 als ihr Debütalbum herausbrachten, da gab es Begriffe wie »künstliche Verknappung« natürlich noch nicht.

 

Vielleicht war auch vieles besser, wie es im Rückblick und im Alter ja immer den Anschein hegt. Nachdem die Platte auf Vinyl 1990 wiederveröffentlicht wurde und 1995 als CD mit acht Neuaufnahmen ein weiteres Mal erschien (jeweils von Teenage Rebel Records aus Düsseldorf herausgebracht), bringt nun Tapete Records eine weitere, auf 500 Stück limitierte Wiederveröffentlichung auf CD und Vinyl auf den Markt.

 

Ende der 1970er war Punk durchaus noch kein überproduziertes Geballer, sondern die pure Wut und eine spontane Willensentscheidung. »Zensur & Zensur« klingt retrospektiv wie ein unruhig-brodelnder Vulkan, auf Messers Schneide zwischen rotzigem Rock’n’Roll, improvisiertem NDW und authentischer Untergrundkultur. Die Gitarren rattern wie Rasierapparate aus Bakelit, kurz vor dem Exitus. Die Gesänge von Jürgen Engler und Stefan Dude wechseln zwischen spröden Melodien und wilden Schreien, denen z.B. bei »KH3« auch schonmal die Cut-Up-Methode als Textmaschine dienen durfte.

 

Diese Version der Platte hat 18 Stücke in anderer Reihenfolge als auf den älteren Reissues, dazu 11 Songs von einem Konzert in den Hamburger Markthallen, 1979 live mitgeschnitten. Wer jetzt nicht zugreift, muss dann halt auf die nächste Wiederveröffentlichung warten.

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              03.01.2020


MUSIK

Bonny Light Horseman

Bonny Light Horseman
37d03d/Cargo/VÖ: 24.01.2020

Ein interessanter Neuzugang im Indie-Folk-Kosmos, den Anaïs Mitchell, Eric Johnson (Fruit Bats) und Josh Kaufman (Craig Finn, Josh Ritter, Bob Weir, The National) da erschaffen haben. Unabhängig voneinander hinterließen sie bereits ihre Spuren im amerikanischen Folk und machen auch keinen Hehl daraus, dass ihre neue »Supergroup« sich stark an klassischen Vorbildern orientiert.

 

Da wären sicherlich Neil Young, Fleetwood Mac und Joan Baez zu nennen, aber auch jüngere Helden wie Bon Iver (Justin Vernon ist zudem Gast auf dieser Platte) oder The National (Aaron Dessner ist ebenfalls anwesend) passen hier ins Schema. Melancholische, spärlich instrumentierte Folksongs, die einerseits winterliche Kaminfeuerwärme ausstrahlen, andererseits klanglich mit viel Hall unterlegt sind und somit – absichtlich oder ungewollt – ein bisschen in die 1980er-Jahre tendieren.

 

Was aber nur eine Randnotiz bei dem Versuch ist, der erst 2018 gegründeten Band neben zweifelsohne guten und sehr traurigen Songs noch ein bisschen mehr Charakter mit auf den Weg zu geben. Andererseits ist es genau diese gewisse Underdog-Bescheidenheit, die ihre souveräne Art unterstreicht, mit der sie Folk-Picking, Chorgesänge und schwermütige Opulenz zu Gehör bringen.

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              03.01.2020


MUSIK

...And You Will Know Us By The Trail Of Dead

X: The Godless Void And Other Stories
Inside-Outside/Sony/VÖ: 17.01.2020

Ein Hoch auf die Band die sich selbst einfach treu bleibt. Und während der Grafiker Augenschmerzen kriegt, weil er weder den überlangen Bandnamen, noch den bedeutungsschwangeren Plattentitel in die schmale Textspalte gequetscht kriegt, schmeißen Conrad Keely und Mannen einfach den V8-Bigblock-Gitarrensound an und rasen weiter durch die psychedelisch-getränkte Welt von soliden Krautrock-Klischees und Melancholie.

 

Auch »X: The Godless…« kriegt einen wieder mit hymnisch-stampfenden Mitsing-Songs wie der Midtempo-Hymne »Gravity«, mit »Don’t Look Down« als Gitarrenriff-geprägtem, ungeschliffenen Pop-Song oder dem Bulldozer-Opener »All Who Wander«, der mit übergroßem Schlagzeug, geschätzt 400 Gitarren und Keelys sanfter Stimmgewalt die Live-Energie der Band aus Texas ganz gut einfängt.

 

Wem das noch nicht genug ist, der kann in die kryptischen Lyrics voller geschichtlicher Querver-weise, Phantastereien und fabulöser Metaphern eintauchen, die sich mit Keelys eindrucksvollem Artwork um die Deutungshoheit in Sachen Kunstanspruch streiten.

 

Innovation und Progression finden sich hier musikalisch vor allem zwischen den Zeilen, in den Pausen und kleinen Ausschweifungen, die sich die Band gekonnt aus den Ärmeln schüttelt. …Trail Of Dead bleiben die unterbewertetste Rockband des neuen Jahrtausends – wer noch Zweifel hat, guckt sich den Crossroads-Mitschnitt ihres Auftritts in der Bonner Harmonie von 2013 an – bei allen anderen haben schon vor Ort die Ohren vor Glück geblutet.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              03.01.2020


MUSIK

Kinderzimmer Productions

Todesverachtung To Go
Grönland/Rough Trade/VÖ: 17.01.2020

Textor und Quasi Modo alias Kinderzimmer Productions sind zurück! Nach der Bandauflösung im Jahre 2007 erschien Mitte September 2019 urplötzlich die Single »Es kommt in Wellen (feat. Fettes Brot, Flo Mega und Fantasma Goria)«, dem nun ein komplettes neues Album folgt. Erster Gedanke: klar, nehme ich, in einer gut abgehangenen Jutetasche! In diesen Zeiten braucht jeder eine tüchtige Portion Todesverachtung, um nicht unter die Räder der Blödsinnigen zu geraten.

 

Aber natürlich machen es einem die Reimeschmeißer von KZP nicht ganz so einfach. Wer ihre Geschichte, ihr Faible für gute Jazz- und Funk-Samples und nicht zuletzt ihren durchdringenden Humor schätzt, darf jetzt trotzdem Freudensprünge machen. Schon der Opener »Baeng« schmeißt mit einem intensiv-groovenden Drumsample die halbe Jazzkapelle in den Raum, zu der die geschliffenen Reime so leise nebenherfahren, dass man gezwungen wird, genau zuzuhören.

 

Natürlich wird es politisch, gesellschaftskritisch – und natürlich feiert man sich gebührend ab, das gehört nach wie vor zum Job in diesem Genre. Aber alles eben zwei Klassen kreativer, elaborierter, pointierter und meist auch lustiger als die bösbubig-ernsten Hiphop-Landsleute. »Warum überzeuge ich dich also, dass du tot bist? Weil du sonst ewig leben würdest, weil du ein Vollidiot bist«, claimt der Titeltrack. Weitere Lobhudelei erscheint da obsolet, wenn uns KZP bei der Todesverachtung helfen, haben wir schon wieder ein bisschen Mut.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              03.01.2020


MUSIK

The Chap

Digital Technology
Staatsakt/Bertus/Zebralution/VÖ: 17.01.2020

Schreckliche Vorstellungen eilen dieser Platte voraus: »In naher Zukunft, wenn Algorithmen Gefühle haben, werden sie all unsere Musik schreiben«, behauptet der Pressetext zur neuen und mittlerweile siebten Veröffentlichung der Band aus North-London.

 

Eine leicht sarkastische Zuspitzung, von der zumindest der Sound auf »Digital Technology«, in all seiner chaotischen Sprunghaftigkeit noch weit entfernt ist. Wo der Vorgänger »The Show Must Go On« mit politischen Statements und verzerrtem Gitarrengefrickel in Richtung Noiserock ausschlug, finden wir hier krasse Gegensätze: von folkloristisch-naivem Minimalelektropop (»Bring Your Dolphin«) bis hin zu düsterer EBM-Monotonie (»I Recommend You To Do The Same«).

 

Natürlich sollte man diese Elektro-Breitseite stets mit einem Löffelchen Humor konsumieren, denn welche synthetischen Sounds der jüngeren Musikgeschichte die Band auch verarbeitet, ein Schuss Ironie und künstlerisches Subebenen-Denken sind Grundvoraussetzung, um hinter der Sammlung von bekannt klingenden Fragmenten einen tieferen Sinn zu entdecken.

 

Wenn man sich jedoch schlicht den verschiedenen, gelegentlich scheinbar der Natur entlehnten Stimmungs- und Intensitätsschwankungen dieses Albums hingeben möchte, muss man das aber natürlich nicht.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                                              03.01.2020


MUSIK

Georgia

Seeking Thrills
Domino/Goodtogo/VÖ: 10.01.2020

Das Warten hat sich gelohnt: Nachdem ihr neues Album eigentlich schon im Mai 2019 erscheinen sollte, veröffentlicht Georgia Barnes nun endlich "Seeking Thrills" - eines der ersten Pop-Highlights 2020.

 

Star-Qualitäten werden nur in den seltensten Fällen durch Fleiß und Disziplin erweckt - man hat sie, oder man hat sie nicht. Wer einen Beweis dafür sucht, sollte sich den Auftritt  von Georgia Barnes beim legendären Glastonbury-Festival 2019 ansehen, umringt von einem roten, elektronischen Schlagzeugset, Synthesizern und Drumpads. Als tanzende und wippende One-Woman-Show haut Georgia die wummernden Beats, die Synthesizer-Flächen und prägnanten Basslinien im Alleingang raus und singt dazu mit einer Souveränität, die der Endzwanzigerin aus London schlicht angeboren sein muss.

 

Ein Highlight dieses Auftritts ist unter anderem "About Work The Dancefloor", ein treibender Electropop-Song vom neuen Album, dessen Energie ein wenig an Robyns "Dancing On My Own" erinnert. Im Juni 2019, also zur Zeit ihres Auftritts in Glastonbury, war das Album "Seeking Thrills" schon so gut wie fertiggestellt, mit minimaler Hilfe von Produzenten wie Sean Oakley (Black Sabbath, Lady Gaga) und Mark Ralph (Years & Years, AlunaGeorge). Doch dann gingen die Vorab-Singles "Started Out" und "About Work The Dancefloor" durch die Decke. BBC Radio1 hievte Georgia auf die A-Playlist und bescherte ihr somit in England eine enorme Welle der Aufmerksamkeit sowie eine Reihe von Auftritten bei weiteren großen Festivals und Headliner-Konzerte in Europa, Amerika und Australien.

 

Das alles war sicher spannend und ehrfahrungsreich, verschaffte dem Nachfolger zu Georgias selbstbetiteltem Debüts von 2015 aber eine Form von Starthilfe, die wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen wäre. Inspiriert von der aktuellen Dancemusic-Szene in Berlin, dem Chicago-House und dem Detroit-Techno der 1980-er hat Georgia ein mitreißendes Pop-Album gezaubert. Die durchgängige Ruppigkeit des Debüts wird geschickt komprimiert in vielen kleinen Momenten des Aufbegehrens, etwa wenn in "Ray Guns" Georgias Kenntnis von Worldmusic und Trap zu einem drängelnden Dancetrack verschmelzen, oder wenn "Never Let You Go" mit dröhnend-geachtelter Basslinie eine Brücke zu rockigeren Hymnen schlägt.

 

Neben kleinen Features von Shygirl ("Mellow") und Maurice ("The Thrill") ist es vor allem die Solokünstlerin selbst, die mit beachtenswertem Selbstbewusstsein durch 13 höchst abwechslungsreiche Tracks kurvt und dabei immer wieder ansteckendes Tanzfieber verbreitet. Dann ist es am Ende auch gut, dass dieses Album mit einem Dreivierteljahr Verspätung erscheint - das erste Highlight des noch jungen Pop-Jahres 2020 ist damit schon gesetzt.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Weser-Kurier                                                                                   02.01.2020