MUSIK

Shirley Collins

Heart's Ease
Domino/Goodtogo/VÖ: 24.07.

Mehr britische Folk-Tradition geht eigentlich nicht. Erstaunt blickte die Musikwelt im Jahr 2016 auf, als Shirley Collins, die Mitbegründerin des »English Folk Revivals« der 1960er, nach 38 Jahren mit »Lodestar« ein neues eigenes Album herausbrachte.

 

Wobei ihre Songs schon immer ein Fundus an Querverweisen in die weite Welt der traditionellen, handgemachten Musik waren. Das fing schon an, als sie 1959 ihre erste Platte »Sweet England« veröffentlichte und anschließend mit dem US-Musikforscher Alan Lomax durch die Südstaaten der USA reiste, um Volkslieder zu sammeln. Weswegen die Liner-Notes zu »Heart’s Ease« (im Gegensatz zu »Lodestar« nicht in ihrem Wohnzimmer, sondern im Tonstudio aufgenommen) auch wieder eine Sammelgrube voller historischer Folk-Geschichten und Verweise ist, die der Auswahl an Songs, zwischen Neuinterpretationen, Coverversionen und neuen eigenen Kompositionen noch mehr Bedeutungsschwere aufbürden.

 

Und die stets etwas krakelige Stimme der mittlerweile 84-jährigen Ikone hat noch etwas mehr britisch-royale Färbung bekommen, die es den zahlreichen Begleit-Instrumenten der Lodestar Band (Gitarre, Ukulele, Fiddle, Löffel, Melodeon, Bass, Moog-Synthi oder Harmonium) nicht zu bequem macht. Ergreifende Authentizität, die zu Nachforschungen ermuntert, frei von modernen musikalischen oder technischen Einflüssen.


Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss                                             03.07.2020


MUSIK

Pogendroblem

Ich-Wir Doppel-EP
This Charming Man/Cargo/VÖ: 03.07.

 

Deutschsprachiger Punkrock 2020 – das geht nicht ohne ein bisschen Humor, politische Wachsamkeit, Selbstironie, Wahnsinn und Anti-Anti-Haltung. Nur damit die Fans der Toten Hosen nicht fälschlicherweise glauben, Pogendroblem würden in derselben Schublade hausen wie ihre Lieblingsband.

 

Die Band aus der »Bergisch Gladbacher Provinz« hat nämlich keinen Nightliner, keine Altersdemenz und keine Schlager-Schunkel-Versöhnlichkeit unterm Karohemd. Stattdessen legen die vier Jungs neben dieser Doppel-EP gleichzeitig auch die DIY-Tourdoku »Pogendroblem auf der Suche nach Utopie« vor, die »die Ideen und Utopien anderer Musiker*innen der Szene aufarbeitet«. Seit Ende Juni im Internet zu finden.

 

Auf »Ich-Wir« dominieren ernsthafte Anliegen, flankiert von albernen Songtiteln wie »Utopie: Studierendenstadt«, »Foucault im Großraumbüro«, »Dippen« und natürlich »Kotzen«. Klanglich orientiert sich die Band erfreulich konsequent am frühen Deuschpunk-Scheppersound der 1980er, ein bisschen NDW, ein bisschen Doppelgarage, ein bisschen mehr technische Finesse.

 

»Für Fans von Mülheim Asozial, EA80, Krank und Novotny TV« meint die kleine Promotionagentur dazu – und wer Platten von denen im Regal vorweisen kann, hat eh schon irgendwo im Netz auf »preorder« gedrückt.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss                                             03.07.2020


MUSIK

Run The Jewels

RTJ4
BMG/Warner/VÖ: 03.07.

Willkommen im virtuellen Zeitalter, wo die digitale Veröffentlichung und die CD-Veröffentlichung des neuen Albums von Run The Jewels mal eben drei Monate auseinanderliegen.

 

Und obwohl der nächste erboste Faustschlag von Rapper Killer Mike aus Atlanta und El-P, Rapper und Produzent aus New York nicht schon dringlich genug ist, reagierten sie prompt auf die Tötung von George Floyd und legten ihr Album vor VÖ als Gratis-Download auf ihre Website, mit der Bitte um eine Spende, die den Black-Lifes-Matter-Demonstranten in den USA Rechtsbeihilfe sichern soll. Der tragische Tod von Floyd ist eine (weitere) fleischgewordene Realität, gegen die das Duo seit jeher angeht.

 

»Walking In The Snow« behandelt diese Thematik, hier geht es um Eric Garner, dessen Tötung der von Floyd erstaunlich ähnlich war. Dass Run The Jewels damit erst recht zum wütenden Sprachrohr und Protest-Soundtrack einer fassungslosen schwarzen Bevölkerung, nicht nur in den USA, geworden ist, hebt dieses ohnehin schon großartige Album nochmal auf ein anderes Level. Die wütenden call-and-response-Raps sind auf den Punkt und voller politischer Tiefgründigkeit, der Oldschool Boombap-Sound trägt mit den klassischen Scratches von Trackstar the DJ oder Cutmaster Swiff zum Wohlgefühl bei.

 

Und als ob das nicht schon ausreichen würde, servieren die Beiden noch eine imposante Gästeliste mit Pharrell Williams, Mavis Staples, Zack de la Rocha, Josh Homme, Greg Nice, DJ Premier und 2 Chainz. Eine Platte, die noch einige Zeit Geschichte schreiben wird.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss                                             03.07.2020