MUSIK
Die Aeronauten
Neun Extraleben
Tapete/Indigo/VÖ: 22.11.
Für engste Freunde und Bekannte kam die Nachricht vom Tod des Aeronauten-Frontmannes Olifr Maurmann wahrscheinlich nicht so überraschend, wie für viele Fans: »Nach zwei Herzinfarkten wartete er im Herbst 2019 vier Monate lang im Krankenhausbett auf ein Spenderherz. Im Januar 2020 versagte im letzten Moment sein schwaches Herz«, so das Label in einer Stellungnahme.
Aber wie es für die ewig unterschätzte Superband aus Schaffhausen in der Schweiz, hinter dem selbsternannten »Knödelbaron« oder »Dirk von Lowtzow in Gummistiefeln« typisch ist, wird diese letzte Platte nicht für posthumes Geldscheffeln mit überflüssigen Demos und schlechten Liveversionen in die Welt hinausgetrötet, sondern als Huldigung und Verbeugung vor dem Anführer der »Dorfdeppen, die die Großstadt neu erfanden«.
Dieses schimmernde Bonuslevel wurde aus bereits aufgenommenem Material von der restierenden Band zu einem Ganzen geformt: Charmanter Protopunk, grooviger Bläserswing, Lofi-Geklampfe und ungeschliffene Popdiamanten, stets mit Maurmanns launisch-lustigen Texten, die über den Status der Verzweiflung nur noch müde lachen können.
Da ist räudig-nachdenklicher Anti-Bünzli-Rock (»Goldfish Murder«), englischsprachiger Beat-Swing (»Ching Ching Wong«), ein unerwartetes, instrumentales Klaviergeschabe namens »Gletscher sterben leise« und schließlich auch »Dieses anstrengende Leben«, ein reduziert-jaulendes Glanzstück Maurmannscher Dichtkunst, dass etwas von dem vorwegnimmt, wie die Lebensfreude eben manchmal nicht gegen das Schicksal anstinken kann. Auch wenn wir ihn und die Band vermissen werden, besser kann man wohl kaum Abschied nehmen.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss
10.11.2020
MUSIK
Sirens Of Lesbos
SOL
Sirens Of Lesbos/The Orchard/VÖ: 06.11.
Dass die Schweizer sich selbst knackig als Worldbeat/Alternative-Pop-Quintett definieren, ist glücklicherweise schnell vergessen. Denn hier geht es nicht um vermeintlich-vorurteilsfreie weltumspannende Nächstenliebe und barfüßige Trommelkreise, sondern um eine grenzenlose Verbindung verschiedener Musikstile, die auf einem elektronischen Fundament schlüssig fusionieren.
Nach dem unerwarteten Major-Label-Ibiza-Hit »Long Days, Hot Nights« und dem anschließenden Rummel mussten die Musiker erstmal wieder vom Rausch der Schmeicheleien ausnüchtern und feststellen, dass das nicht der richtige Weg sein konnte.
Wie soll man auch sonst die eigenen Einflüsse von D’Angelo, Van Morrison, Archie Shepp, J.I.D. oder Rosalia überzeugend unter einen musikalischen Hut bringen? Dub-Beats prallen dafür auf nüchterne Electronica, mischen sich mit souligen Gesangsfarben und Trapbeat-Spuren, die hinter wippenden Bassläufen und jazzigen Klangschnipseln verschwinden. Viele Puzzlestücke auf einer musikalisch durchaus spannenden Schnitzeljagd.
»SOL« ist ein charmantes Dance-Album mit gezielten Widerhaken und einer Menge zurückhaltend-eingestreutem Talent, dass sich wohl nur denjenigen vollständig offenbaren wird, die über einen kontinuierlichen Tanzbeat und souveräne Female-Vocals hinweghören können.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 06.11.2020