MUSIK
Mourn
Self Worth
Captured Tracks/Cargo/VÖ: 30.10.
Dass eine Indierockband aus Spanien mal die Bühnen von Nord-Amerika und Japan (neben europäischen Clubs natürlich) erobern würde – dass hätten die Gitarristinnen und Sängerinnen Jazz Rodríguez und Carla Pérez Vas aus Katalonien sich wohl nie träumen lassen.
Und doch werden ihre musikalischen Bemühungen daheim abfällig noch immer als nettes Hobby, nicht als Beruf betrachtet. Für dieses vierte Album sind solche emotionalen Konflikte natürlich bestes Kanonenfutter. Gemeinsam mit Jazz‘ Schwester Leia am Bass und dem neuen Schlagzeuger Víctor Pelusa haben sie sich diesmal behutsam ans Songwriting gewagt, und im Studio ohne Druck jedem Song die Aufmerksamkeit geschenkt, die er gebraucht hat.
Ein natürlich gewachsenes Selbstwertgefühl, mit festen Wurzeln im weiblichen Indierock der 1990er (Sleater-Kinney, Veruca Salt, PJ Harvey) und mehr spannenden Schnörkeln als je zuvor. Massive, zuweilen herrlich-dissonante Gitarrenwände kämpfen gegen mehrstimmige Gesänge und melancholische Wave-Harmonien, fügen sich schließlich zu traurig-schönen Krachhymnen, die vor Wut, Charme und Pop-Gespür förmlich übersprudeln.
Dreckige Gitarrenakkorde und dicke Bassläufe in knackigen Krawall-Attacken wie »Stay There« oder »This Feeling Is Disgusting« zeigen zudem, dass dieses Indie-Ding auch 30 Jahre später noch für ausgesprochenes Wohlgefühl sorgen kann.
Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss
30.10.2020
MUSIK
Leisure
Side A EP
Nettwerk/Goodtogo/VÖ: 30.10.
»Groovy« und »Funky« sind zurecht Begriffe aus der Rezensionshölle, die Musik entweder sarkastisch abwerten sollen, oder schlicht auf akuten Wortfindungsstörungen basieren. Und natürlich ist die Musik, die diese Schubladen in den schätzungsweise 1970er-Jahren definiert hat, momentan ziemlich abgefrühstückt.
Bis zu dem Punkt, als das Songwriter-Kollektiv aus Neuseeland auftauchte und die Frage aufwarf, warum Prince, Sade und meinetwegen auch Daft Punk nur noch als Legenden, aber nicht mehr als Taktgeber wahrgenommen werden. Entspannt-bekiffte Musik zum Cocktails schlürfen und mit nackten Füßen im weichen Sand wedeln – hey, was könnte der triste Corona-Winter 2020 besser vertragen?
Das Werkzeug ist natürlich hinlänglich bekannt, samtig-verspielte Bassläufe, träumerische Synthiteppiche, knackige Discobeats, anschmiegsame Gesänge und gerade genug clevere Melodieführung, um den Zuhörer bei Laune zu halten – auf dieser kurzweiligen EP, die in Streamingzeiten ausdrücklich auf ihr Gesamtkonzept pocht, kommt diese schmusig-intensive Glückseligkeit innerhalb kürzester Zeit zum Höhepunkt, ohne an Faszination zu verlieren.
Angeblich verdingen sich die Mitglieder dieses Quintetts sonst anderweitig als erfolgreiche Songwriter – da macht diese gelungene Fingerübung abseits der üblichen Pfade doch spontan glücklich.
Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 30.10.2020
MUSIK
Mina Tindle
Sister
37d03d/Cargo/VÖ: 09.10.
Auch wenn dieses dritte Album für die französische Chanteuse Pauline de Lassus Saint-Geniès aka Mina Tindle laut Plattenfirma die Abkehr vom »strahlenden Indie-Pop« einleiten soll, so richtig düster wird es zum Glück dann doch nicht.
Und das, obwohl sie schon mit The National auf Tour und zudem im Vorprogramm von Sufjan Stevens zu sehen war. Weiterhin versprühen die zurückhaltenden Klavier-Kompositionen eine optimistische Fröhlichkeit, denen Thomas Bartlett als Produzent Leben eingehaucht hat. Im Gegensatz zu anderen Künstlerinnen die Bartlett aufgenommen hat (z.B. Joan As Police Woman oder Florence + The Machine) bleibt Mina Tindles Sound immer unmittelbar zugänglich.
Mit einer dezenten, klassischen Schwere, kleinen Chorstimmen und sanften Percussion-Begleitungen, die die mal in französischer, mal in englischer Sprache verfassten Gesänge nur minimal aufbrezeln. Sogar ein gewisser analoger Hauch von Shoegaze weht durch die Songs, ohne verhallte Gitarrenwände und Post-Wave-Depressionen, dafür mit französischer Leidensfähigkeit, die von Grund auf eine gewisse elitäre Größe vorweisen kann. Und wer dann obendrein noch Sufjan Stevens höchstselbst als Feature (»Give A Little Love«) mit auf die Platte kriegt, dem darf man die berechtigte Relevanz im Strudel neuer Musikveröffentlichungen definitiv nicht absprechen.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 05.10.2020
MUSIK
METZ
Atlas Vending
Sub Pop/Cargo/VÖ: 09.10.
Die Plattenfirma stempelt das kanadische Trio nach wie vor als Punkband. Muss man sich eben auch mal fragen, was der Begriff im Jahr 2020 grundsätzlich bedeutet. Der komplexe Lärm, der auf diesem Album anscheinend direkt aus der Hölle entwichen ist, lässt sich mit spätem 1990er Post-Hardcore und den Noise-Bands des legendären Amphetamine Reptile-Labels (z.B. Helios Creed, Guzzard, The Cows) verknüpfen.
Aber auch mit jemandem wie dem Produzenten Steve Albini, der das letzte Album »Drained Lake« aufgenommen hat. Dieses Mal haben Ben Greenberg (Uniform) und Seth Manchester (Daughters, The Body) ihr Talent dabei bewiesen, den bestialischen Sound der Band einzufangen. Präzises Taktieren, kreischende Gitarrenwendungen, martialische Tiefschläge von Bass und Bassdrum, die wahlweise in uferloser Aggression münden, oder sich von der ein oder anderen kleinen Melodie (z.B. »No Ceiling«) einfangen lassen, über die Sänger/Gitarrist Alex Edkins seine Gedanken zur unveränderbaren Schlechtheit der Welt hinwegschreit.
»Hail Taxi« bietet zwischen monströsen Krachgebilden kurze, hymnische Refrains, bevor die Achterbahn sich erneut in die Tiefe stürzt. Lärm und Wut so pointiert auf den Punkt zu bringen, ist schwerer als es sich anfühlt, und Metz sind dabei auf Album Nummer vier von gelangweilter Nachlässigkeit immer noch meilenweit entfernt.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 05.10.2020
MUSIK
CULK
Zerstreuen über euch
Siluh/Cargo/VÖ: 09.10.
Solch schöne, düstere Wave-Gitarren hat man aus deutschsprachigen Landen schon lange nicht mehr gehört (kennt eigentlich noch jemand die Geisterfahrer, nur mal so?).
CULK, die Band um die Wiener Multiinstrumentalistin Sophie Löw haut nach ihrem selbstbetitelten Debüt von 2017 (dem der Spiegel einen »Suchtsound« attestierte) neun neue Songs raus, deren schaurig-schöne Dringlichkeit nicht unbemerkt bleiben kann. Produzent Wolfgang Möstl (Nino aus Wien, Voodoo Jürgens, Dives) hat diese frische Energie zwischen Shoegaze und Postpunk weiter verdichtet und lässt einen treibenden Song wie »Nacht« in der Indie-Disco-Rotation schnell mit den ewigen Joy-Division-Ohrwürmern gleichziehen.
Die erste Single »Dichterin« pendelt weiter ausholend zwischen bombastischem Refrain-Krach und London Grammar-artiger Pop-Unsterblichkeit. Löws sanft-perforierende Stimme fühlt sich in ruhigen Gitarrenflächen jedoch ebenso wohl, Texte zwischen verwunschener Poesie und messerscharfer Gegenwartsanalyse runden dieses Album gekonnt ab, ein kurzweiliges Erlebnis voll mit gefälligen Hooks und bedrohlicher Ehrlichkeit – das gefällt!
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 09.10.2020