MUSIK
Anita Lane
Sex O' Clock
Mute/Rough Trade/VÖ: 10.12. Stream|mp3|Vinyl|CD
Da dieses Album bereits 2001 veröffentlicht wurde, und nun, just zum Weihnachtsfest, und um eine Vinyl-Version erweitert, erneut das Licht erblickt, könnte man natürlich einen leisen Sellout-Vorwurf formulieren. Anita Lane hat das Reissue aber selbst initiiert, bevor sie im April 2021 mit 61 Jahren recht unerwartet verstarb, was den pekuniären Fingerzeig schnell in Mitgefühl hüllt.
Auch musikalisch erklingt hier abgeklärte Trübseligkeit, die in diesem nicht enden wollenden Corona-Taumel dem Galgenhumor ganz gut zur Seite steht. Das Klavier tönt gelassen nach hartem Fusel und auch Lane selbst säuselt und grummelt mit einer Mischung aus Nico und Leonard Cohen der Verzweiflung entgegen, während ihr langjähriger musikalischer Partner Mick Harvey hinter dem Tresen, Chanson, Barjazz und elektronische Popmusik im Martiniglas gut durchschüttelt.
Vielleicht ist es aber auch die konservierte Erfahrung eines aufwühlenden Künstlerlebens, welche die gebürtige Australierin schon vor zwanzig Jahren vorzuweisen hatte. Als Gründungsmitglied von Nick Cave & The Bad Seeds und der späteren Zusammenarbeit mit den Einstürzenden Neubauten, Gudrun Gut und Die Haut in Berlin hat sie die künstlerische Seite der melancholischen Popmusik-Ecke mitgeprägt, bevor sie 1988 eine Solokarriere begann. Nick Cave nannte sie unlängst »die mit Abstand klügste und talentierteste von uns allen«, was auch in diesen vermeintlich vorbeirieselnden Songs aufblitzt. Zwischen Paukenschlägen, Disco-Streichern und Gitarrenpickings buhlen ihre knarzigen Gesangslinien mit Erfolg um die verdiente Aufmerksamkeit.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 01.12.2021
MUSIK
Bärchen und die Milchbubis
Endlich komplett betrunken
Tapete/Indigo/VÖ: 10.12. Stream|mp3|Vinyl|CD
Das Jahresende ist hinlänglich dafür bekannt, dass die Plattenfirmen nochmal einen Praktikanten ins Archiv schicken, um zu erkunden, ob da noch unveröffentlichtes Material schlummert, oder Live-Tracks, die am Gabentisch noch Abnehmer finden könnten.
Dieses Jahr sind u.a. Annette Grotkasten (Bärchen) und ihre Milchbubis aus dem Regal gefallen. Als »Werkschau« bringt Tapete Records alle Songs ihrer EP («Jung kaputt spart Altersheime«, 1980), der LP (»Dann macht es Bumm« 1981) sowie einige Live-Aufnahmen und Bonustracks als frisch gemastertes Bündel auf den Markt.
Als die 1979 gegründete Band aus Hannover gemeinsam mit Bands wie Hans-A-Plast oder Rotzkotz den Punk nach Deutschland überführte und mit Wave-Strukturen und deutschen No-Future-Texten garnierte, war das subversiv und Pop zugleich. Immerhin adelte sie der Musikexpress 1982 als »gute, unpeinliche Popband«, während die BRAVO als selbsternanntes Sprachrohr der Jugend ein knappes »Superstark« beitrug.
Dabei schien ihr rumpeliger Sound, gepaart mit sozialkritischen bis albernen Texten im Rückblick so gar nicht massentauglich, erntete in Musikzeitschriften, Stadtmagazinen und sogar in der Zeit positive Kritiken und staubte sogar im Jahr 2012 im US-Kultmagazin Maximumrocknroll einen posthumen Bericht ab. Wer die Platten nicht längst eingesammelt hat, findet 24 Songs nun neu aufgelegt im Plattenladen, oder beim Streamingdienst – und zum Jahreswechsel sogar live auf ausgewählten Bühnen zwischen Hamburg, Hannover und Berlin, gemeinsam mit Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 01.12.2021
MUSIK
Alte Sau
Öl im Bauch
Major Label/Broken Silence/VÖ: 03.12. Stream|mp3|Vinyl|CD
Kann Jens Rachut singen? Kommt wohl darauf an, wen man fragt. Wenn er nicht gerade mit der Coverband (Ratttengold) seiner eigenen Hamburger Kultbands (u.a. Dackelblut, Oma Hans, Angeschissen) unterwegs ist, tobt er sich (im Studio und auch live) mit Projekten wie Alte Sau aus. Statt wütender Stakkatogitarren gibt es hier die volle Orgeldröhnung von Rebecca Oehms, zu der Bassist Thomas Wenzel und Schlagzeuger Raoul Doré ein knackiges, geradliniges Rockfundament liefern.
Und Rachut singt! Zumindest war er dieser Kunstform noch nie so nah wie in »Streifschuss«, während »Die Sibirischen Falten« (Becki, Piroska H. und Wiebke H.) dazu einen freundlichen Chorteppich ausschütteln. Komponiert wurde bereits Anfang 2020, aufgenommen dann mit Ted Gaier (Die Goldenen Zitronen) in der geliebten Heimatstadt Hamburg. Tolle Texte, deren Fetzen Rachut irgendwo gekonnt wie fanatisch aufklaubt und in sein sprachliches Sperrfeuer verwandelt, mischen sich mit leierndem Heimorgel-Geschwader und seit jeher groovender Rhythmusfraktion – das klingt auf Papier extrem widersprüchlich, erstrahlt auf Tonträger aber zu einer scharfkantig-eingängigen, sicherlich verbotenen Mische aus Motown und Küstennebel.
Wie schön, dass der »Wildschweinhasser und IC-Fan« (Auskunft d. Plattenfirma) Rachut immer schön wütend bleibt. Und dass seine Musikprojekte (wie auch sein Textsammelsuriums-Buch »Der mit der Luft schimpft« zu der Schlagzeuger Doré schöne Zeichnungen lieferte) immer deutlich mehr Genialität verströmen, als die Beteiligten oberflächlich vorgeben drauf zu haben.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 01.12.2021
MUSIK
Rival Consoles
Overflow
Erased Tapes/Indigo/VÖ: 03.12. Stream|mp3|Vinyl|CD
Für die Ambientsounds von Ryan Lee West hat Musik-Express-Autor Stefan Hochgesand den schönen Begriff »Autoren-Techno« erschaffen. Und dieses Schlagwort lässt sich auch auf diese mittlerweile siebte Albumveröffentlichung des Briten stempeln, der diesmal mit dem Choreografen Alexander Whitley für dessen gleichnamige Tanzproduktion »Overflow« zusammenarbeitete.
Sounds und Rhythmen, die emotionale Reaktionen im Leben zwischen einer Vielzahl von Datenströmen abbilden, welche aus dem Smartphone, von der digitalen Werbetafel an der Straße, oder vom Bildschirm mit der aktuellen Lieblings-Streamingserie gefüttert werden. Wer glaubt, das wäre schon verstärkt kopflastig, darf sich noch auf ein Zitat des Komponisten freuen: Scanning sei ein Stück, »das auf einer elektromagnetischen Aufzeichnung aus dem Inneren eines iPhones basiert, aufgenommen, während man sich mit dem Gerät in den sozialen Netzen bewegt«.
Overflow wurde im Mai im Londoner Sadler’s Wells Theater uraufgeführt und geht nächstes Jahr auf Europatour. Wirft man den Tanz-Aspekt und die inhaltliche Formel einmal beiseite, bleibt eine Sammlung pulsierender Klangteppiche, voll von analoger Wärme, die dem sonst recht profan-esoterischen Genre »Ambient« nach wie vor die intellektuelle Autoren-Kappe aufsetzen können.
Die Sounds sind immer einen Biss aggressiver, die in der Ferne wabernden Melodien stets einen Hauch tiefgründiger, als es das Genre sonst hergibt. Wer Tanzveranstaltungen also nicht abkann, sollte sich das ruhig auf der Couch mit einem guten Rotwein zu Gemüte führen.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 01.12.2021
MUSIK
Chilly Gonzales
A Very Chilly Christmas
PIAS/Gentle/Rough Trade/VÖ: 05.11. Stream|mp3|Vinyl|CD
Bereits Anfang November hat Chilly den Weihnachtsbattle mit seinem neuen Bescherungs-Album eingeläutet. Wenn die Welt sich zwischen Champagnerschwenker und Weißweinschorle, Raclette, Weihnachtsente, Christmas-Craftbeer und Opas peinlichen Herrenwitzen so langsam zum trägen Stillstand hinabschwingt, ist Onkel Chilly mit dieser Platte ein äußerst gefälliger Begleiter.
Beginnend mit den kuschlig bis dramatisch adaptierten Klavierversionen von »White Christmas« und »Silent Night«, über hierzulande weniger bekannte Standards wie »Good King Wenceslas« und »God Rest Ye Merry Gentlemen« hat sich der aus Kanada stammende und seit längerem in Köln beheimatete, charmante Dandy unter den Pianisten noch Feist und Jarvis Cocker ins Studio geholt, die mit ihren Stimmen Songs wie »Snow Is Falling In Manhattan« noch ein bisschen mehr Stimmung einhauchen.
Die humorvolle Seite des studierten Jazzpianisten muss man in den feingliedrigen Zwischentönen suchen, die er den vielen Weihnachtsklassikern mit gekonntem Spiel unterjubelt. Wo ungeschulte Ohren seine Interpretationen von »Jingle Bells« oder »O Tannenbaum« als steife und wenig originalgetreue Versuche abstrafen mögen, entdecken Musikliebhaber und Chilly-Fans pure Spielfreude und kreative Verneigungen vor bekannten Weihnachtshits, die auch die lahmste Bescherung und das staubigste Festmahl zum gelungenen Event hochjazzen. Sofern der Vorrat an Millionärsbrause nicht ausgeht, natürlich.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 01.12.2021