MUSIK
Altin Gün
Yol
Glitterbeat/Indigo/VÖ: 26.02.
Schon das erste Album »On« (2018) der Band aus Amsterdam war ein Erweckungserlebnis für alle Feinde der klischeebeladenen Worldmusic-Glückseligkeit. Denn
was Altin Gün um Sängerin Merve Dasdemir und Sänger Erdinç Ecevit aus türkischem und anatolischem Folk, Krautrock und präzise swingendem Akademiker-Jazz herausholte, war eine packende Mischung
aus Musikerwahn und melodiöser Urbanität.
Der Sound aus tiefergelegten 3er BMWs und einschlägigen Dönerbuden kann auch cool sein, sofern man weiß wie es geht. Und das dritte Album »Yol« beweist ein weiteres Mal, dass die Band
musikalische Kreativität immer noch ganz oben auf der Prioritätenliste hat. Schon in jungen Jahren wurde hier ein Trademark-Sound erschaffen, dem Bassist Japser Verhulst für »Yol« attestiert, er
klinge »wie ein türkischer Musiklehrer im Kindergarten der 1980 Jahre, der einen 808 einsetzt«. Nicht nur ein Querverweis auf den legendären Drumcomputer Roland TR-808, sondern auch die
Feststellung, dass sich Euro-Synthiepop-Akzente wunderbar in den Bandsound einfügen.
Als zurückhaltende Klangfarbe bringen die charakteristischen Synths zusätzlichen Wind in den kreativen Klangmix, der trotz der fleißigen Veröffentlichungsfrequenz noch lange nicht auserzählt
scheint. Staubige Schlagzeuggrooves aus den 1960ern, Ethnojazz-Gitarrenlicks, fernöstliche Percussion und pumpende Funkbässe mischen sich mit dem stets souveränen, wechselnden Gesang zu einer
optimistischen, tanzbaren und mitreißenden Völkerverständigung, die glücklicherweise ganz ohne Klischees und anbiedernde Kuschelbedürfnisse auskommt.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 28.02.2021
MUSIK
Olympya
Auto
Audiolith/Broken Silence/VÖ: 26.02.
»Da helfen keine Tabletten, niemand kann mich mehr retten« (»Tabletten«) – lange hat keiner mehr so talentiert die Zitathölle der Neuen Deutschen Welle mit zeitgeschichtlicher Dystopie kombiniert wie das frischgeschlüpfte Trio aus Hamburg. 36 Minuten (entweder auf Vinyl oder Kassette) Retro-Gefühle, Synthpop, Darkwave, Krachgitarren, wahlweise verziert mit Sprechgesang oder ruppigen Gesangsmelodien im Stil von Kraftklub. Vorne an steht Marcus Borchert alias Pierre Sonality, der bisher vor allem im HipHop (solo und bei Funkverteidiger) seine Kreise zog. Bei Olympya gibt es stilvolle Backflashs (»In der Videothek hängt ein Poster von Rocky, ich will so sein wie Rocky«, aus »Rocky«), Dada-Punk-Attitüde und den beinahe schon traditionellen Label-Kniff von Audiolith Records, bekannte Elemente mit geschwungener Faust zu einem neuen Spektakel hochzujazzen. Die konsequenteste Form der Verweigerung, die bei Olympya jedoch mehrheitlich für poppige Entspannung sorgt, kribbelige, nachdenkliche und durchaus öfter mal ironische Entspannung. Das Herz steht auf Autopilot, alles richtig gemacht, Olympya!
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 04.02.2021
MUSIK
Brijean
Feelings
Ghostly International/Cargo/VÖ: 26.02.
Wie eine feuchtfröhliche, spärlich beleuchtete Nacht muss sich dieses Nebenprojekt für Brijean Murphy und Doug Stuart anfühlen. Eine gefühlt endlose Entdeckungsreise zwischen Electro-Latin, jazzigem Dreampop und tropischem Disco-Soul, mit der sich die beiden Musiker aus Oakland ein bisschen von ihren sonstigen Projekten freischwimmen.
Murphy ist sonst u.a. als Perkussionistin für Waterstrider, Toro Y Moi, U.S. Girls und Poolside aktiv, während Multi-Instrumentalist und Produzent Stuart bei Bells Atlas, Meernaa, Dougie Stu und Luke Temple Jazz und Pop jongliert. Nach dem Mini-Album »Walkie Talkie« von 2019 expandiert dieses flirrend-unfokussierte Album auch bei der Besetzung, u.a. sind Chaz Bear (Toro Y Moi), Tony Peppers und Hamir Atwal als Gäste vertreten und kuscheln ihre Mitbringsel auf die sanfteste Art ins musikalische Séparée.
Den lasziven Unterton brachte Murphy selbst früh ins Spiel, die Songs sollen ihrer Meinung »mental health vibes but also sexy vibes« ausstrahlen, wie sie thebaybridged.com verriet. Und wo fühlt sich eine leicht anrüchige Morgenstimmung besser zuhause, als in einem taumelnden Gemenge von wärmenden Grooves, knackigen Drinks und einer vertrauten Zwischenmenschlichkeit, die sich ganz ohne Smalltalk bestens zu verständigen weiß.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 04.02.2021
MUSIK
Jeff Tweedy
Love Is The King
dBpm/Rykodisc/Warner/VÖ: 05.02.
Digital erschien das dritte Solo-Album des Wilco-Frontmanns bereits im Oktober, aber zu dieser Musik passt natürlich ein altmodischer, haptischer Tonträger (CD oder Vinyl) viel besser. Nach über 110 Folgen der »Tweedy Show« (siehe Youtube), in der Jeff – coronabedingt – mit seiner Familie musiziert und auch zahlreiche gute Songs covert, fragt man sich beinahe, wie er sich nebenbei auch noch den Songs von »Love Is The King« widmen konnte.
Auch daran sind u.a. seine Söhne Spencer und Sam beteiligt, aufgenommen wurde während des Lockdowns im Wilco-eigenen »The Loft«-Studio in Chicago. Jeden Tag ein neuer Song, bis das komplette Album in seiner spröden, countryesken Folkigkeit fertig war.
Spielarten von Country-Standards wie in »A Robin Or A Wren«, SloMo-Folk-Balladen wie »Troubled« oder mit gepickter Gitarre versehene, musikalische Sonnenuntergänge wie »Even I Can See« – alle elf Songs strahlen natürlich diese krümelige Selbstverständlichkeit eines Tweedy-Juwels aus.
Die leicht gelangweilte, aber stets wiedererkennbare Stimme, eine Gitarrenharmonie hier, ein Slidegitarren-Zwischenspiel dort, es gibt wie immer viel zu erkunden, in diesen vermeintlich einfachen Songs, von denen Tweedy wohl mittlerweile um die 300 fertiggestellt hat. Wem das an Heldenverehrung noch nicht reicht, kaufe sich zusätzlich bitte das unlängst erschienene Tweedy-Buch »How To Write One Song«.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 05.02.2021
MUSIK
Die Regierung
Da
Staatsakt/Zebralution/VÖ: 05.02.
Seit ihrer Reunion im Jahr 2015 dreht die Band um Tilman Rossmy intensiv an der Veröffentlichungsschraube. »Da« ist bereits das dritte Album innerhalb von vier Jahren, die Gruppe lässt sich nach wie vor noch genauso gut mit den selig-schrammeligen L’Age D’Or-Labelzeiten wie mit altersweisen Jam-Sessions im Proberaum verknüpfen.
Das jaulend-tänzelnde Gitarren-Feedback-Outro von »Der Witz Ist« unterstreicht die souveräne Selbstdefinition der ehemaligen Outsider in der Raucherecke der Hamburger Schule, zappelndes Gitarrenspiel mit Americana-Dringlichkeit zu tiefschürfenden deutschen Texten bekommt man eben auch nicht alle Tage geboten.
Von einer Live-im-Proberaum-Geschichte entwickelte sich dieser siebte Longplayer notgedrungen zur »Homerecording-Frickelei«, dessen Resultat sich aber der »Ver-Steely-Dan-isierung der Regierung« entschieden entgegenstemmt, ist sich Rossmy sicher. Schnodderige Texte, verschleppte Schlagzeuggrooves, ausgebüxte Gitarrensoli reiben sich an der fleckenfreien Einheitlichkeit der modernen Zeit, Optimierungszwängen zum Trotz knallen Die Regierung auch 39 (!) Jahre nach ihrer Gründung einfach ihr Ding raus, hier gibt es eben keinen Platz für Koalitionsverhandlungen.
Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Bonner Stadtmagazin Schnüss 04.02.2021