MUSIK

Anika

Change

PIAS/Invada Records/Rough Trade/VÖ: 23.07. Stream|mp3|CD|Vinyl|MC

 Das letzte und gleichzeitige Debüt-Album der britisch-deutschen Songwriterin erschien vor unglaublichen elf Jahren. Eine für die heutige Zeit fast ewige Zeitspanne, die aber mit der gleichnamigen »Anika«-EP (2018) und der Zusammenarbeit mit BEAK> und Tricky sowie ihrer Band Exploded View gefüllt wurde, mit der sie zudem zwei Alben aufgenommen hat.

 

Für »Change« reiste die Wahlberlinerin nach Mexiko, um dort mit Martin Thulin von Exploded View ihre Songskizzen aus den Berliner Klangbild Studios zu vervollständigen, Thulin spielte dazu live Schlagzeug und Bass ein. Und noch immer schafft es die in Surrey, England geborene Künstlerin auf geschmeidige Art die sperrigen Versatzstücke des No Wave mit Elektronik, Krautrock und dem Stadion-Tanzsound von Tricky und Portishead zu verschmelzen.

 

Im schleichend-groovenden »Never Coming Back« schwankt ihre Intonation in bester Nico-Manier, Titel wie das unruhig-kratzende »Rights« oder das düstere »Freedom« wechseln sich mit groovigem Dancepop wie der ersten Single »Finger Pies« ab, die mit ihrer wavigen Hookline das Zeug zum Disco-Sommerhit hat. Sofern sich nach Corona noch jemand an den Weg zur Discothek erinnert, die hoffentlich mal nicht insolvent gegangen ist.

 

Und um die Verweigerung von Erwartungshaltungen zu unterstreichen, klingt dieses durchaus komplexe Album mit dem schrammeligen »Wait For Something« aus, dass erneut Nico und The Velvet Underground aus den schönen Erinnerungen in die Gegenwart holt.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                             05.07.2021


MUSIK

Mega Bog

Live, And Another

Paradise Of Bachelors/Cargo/VÖ: 23.07. Stream|mp3|CD|Vinyl

Für dieses Album musste Erin Birgy erst die dröhnende Stille in einer kleinen Hütte in der Nähe des Rio Grande aufsuchen, wo sie mit Co-Produzent, Tontechniker und Perkussionist James Krivchenia (Big Thief) erstmals zur Tat schritt. »Völliger Selbstverlust inmitten der Weite«, heißt es im Pressinfo, also die Kreativität, die irgendwann kurz vor dem Wahnsinn der Ereignislosigkeit seinen Kopf emporstreckt und den Künstler antreibt.

 

 

Ihre bebende Stimme, stets etwas waghalsig intonierend, klopft behäbig auf die Klangflächen, Electro-Wave-Folk, der sich ein paar ausschlagende Zuckungen bewahrt hat, improvisierte, spontane Ausschmückungen, die Klassik, Psychedelik und Kunstanspruch zum knarzenden Beiwagen machen.

 

Bei den Aufnahmen in verschieden Studios sammelte Birgy anschließend Gäste wie Aaron Otheim, Zach Burba, Will Segerstrom, Matt Bachmann, Andrew Dorset (Lake) oder Meg Duffy von Hand Habits ein, um sich einen Platz im Art-Universum zwischen Velvet Underground, The Ex, Lou Reed und The Brian Jonestown Massacre zu sichern.

 

Oftmals wirkt es dann aber doch ein bisschen zu gewollt, die Kunsthaftigkeit nicht aus der Kreativität, sondern aus dem äußerlichen Anspruch zu generieren, der dann auf eine bittere Art und Weise mit überzeichnetem Beigeschmack ein wenig lahmt. Da kann man sich im Angesicht der Fülle der Neuerscheinungen gerne auch auf die Ursprünge zurückbesinnen.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                             05.07.2021


MUSIK

Hollie Kenniff

The Quiet Drift

Western Vinyl/Cargo/VÖ: 16.07. Stream|mp3|CD|Vinyl

Ambientmusic kann sich entweder als unfokussiertes Gepluckel darstellen, aber durchaus auch eine gewisse Erwartungshaltung generieren. Als Mitglied der Shoegaze-Lounge-Ecke Mint Julep (in der sie mit ihrem Mann fuhrwerkelt), die erst im März 2021 das spannende Album »In A Deep An Dreamless Sleep« veröffentlichte, wird sie für ihr neues Projekt genauso viele Neugierige akquirieren können, wie mit der Tatsache, dass sie sich konsequent des wortlosen Gesangs bemächtigt.

 

Eine Technik, die mit langgezogenen Lauten die Stimme zu einem Instrument transformiert, dass seine Aussagen eben nur in subjektiven Tönen offenbart. Politische Statements erwartet man hier aber wohl ohnehin nicht, stattdessen schichtet Hollie verhallte Klangflächen auf Echosequenzen, pulsierende Synthesizer-Teppiche verweben sich mit wolkenhaften Feedback-Loops. Feedback im Sinne von selbstwiederholenden Echos, nicht im Sinne von kreischenden Gitarren, natürlich.

 

Das klingt angenehm unbestimmt, irgendwie hat Frau Kenniff ihrem Gesamtklang aber auch eine gewisse analoge Natürlichkeit beigemischt, die sich vom austauschbaren Club-Ambient-Sound gekonnt abhebt. Also kein Café-Del-Mar-Gehipster, sondern eher dezentes Wassergeplätscher an einer nicht so belebten Küstenecke, Raki statt Moscow Mule, vielleicht ein Joint statt Fair-Trade-Wasabi-Nüsschen – so kann man das prokrastinierte Tagwerk natürlich souverän ausklingen lassen.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                             05.07.2021


MUSIK

Mieke Miami

Montecarlo Magic

Church/Bertus/Zebralution/Republic Of Music/VÖ: 09.07. Stream|mp3|Vinyl

Endlich Musik für den ersten Hitzeschlag in diesem Jahr! Sabine Mieke Wenzl packt Bassklarinetten, Paukendrums und verwunschene Gesangsschwaden in den Kofferraum eines übergroßen Retro-Straßenkreuzers und saust mit uns an den Stränden des Sunshine State entlang.

Auf dem Rücksitz tauchen kurzzeitig immer wieder die Schatten von Róisín Murphy und Joni Mitchell auf, während höchst schmissige Versatzstücke aus Acid-Jazz, Soul und Electro-Funk in der dröhnenden Nachmittagssonne pulverisiert werden.

 

Hinter dem verlassenen Megamart tauchen dann auch noch die kaum gealterten Pilzköpfe aus Liverpool auf. Mieke hat sich an ein Cover des Beatles-Songs »Cry Baby Cry« gewagt, bei dem Bass und Schlagzeug mit ihrer Groove-Kompetenz das Tempolimit auf dem staubigen Highway locker aushebeln.

 

Wie schon auf ihrem vielgelobten Debüt »In The Forest« von 2016 steckt die übergroße Kraft der Songs in einer völlig unbeeindruckten Coolness, die der von Hamburg über Berlin ins Brandenburgische gezogenen Multiinstrumentalistin internationale Grandezza verleiht. Spätestens beim kurzen, völlig freigespielten Saxophonsolo auf »Child« fragt man sich dann doch, wie viele Nächte diese Übermusiker in irgendwelchen, dem Rest der Menschheit nicht bekannten, dunklen Moonshine-Jazzkellern der Hauptstadt verbracht haben.

 

Ein großes Album, das stetig wächst und mehr Lust auf Musik macht, als der ganze Einheitsbrei des unerträglichen Playlisten-Alltags.

 

Klaas Tigchelaar // Veröffentlicht im Stadtmagazin Schnüss                                             05.07.2021