Zustra
The Dream Of Reason
(Ragusa/Believe/Motor) VÖ: 25.02.
Stream|mp3|CD|Vinyl
Wenn das Debütalbum mit einem markerschütternden Hornstoß beginnt und die eigene Platte von der Plattenfirma »irgendwo zwischen Abgrund und zarter Hoffnung« eingeordnet wird, hat man eventuell kurzzeitig die Aufmerksamkeit auf seiner Seite. Der düstere Dreampop der kroatisch-deutschen Künstlerin ist momentan zwar nicht alleine mit seinem dystopischen Fokus.
Aber vielleicht brauchen wir das gerade jetzt so dringend wie betäubendes Hochprozentiges. Wo epische Synthesizer-Flächen, Streicher, Pauken und Trompeten, einnehmender Gesang und melancholische Percussion kollidieren, sind die abgehalfterten Assoziationen mit Twin Peaks, David Lynch oder Florence And The Machine nicht weit. Aber auch für den nächsten James Bond-Theme würde die aus Dobrovnik stammende Singer-Songwriterin einen überzeugenden Beitrag abliefern können. Ein Song wie »Nihilist« formt aus schnörkellosem Dreampop eine emporsteigende Eingängigkeit, die sich deprimierend und beglückend zugleich anfühlt.
Barocke Symbolik, lyrische Verknüpfungen von Macbeth, Star Wars, Ringelnatz und Szymborska sowie die eine oder andere Zeile auf Französisch oder Kroatisch komplettieren den intellektuellen Anspruch, der dieses Debüt irgendwo in die konservativ-klassische Ecke rückt, ohne dass Düsternasen mit einem Hang zur morbiden Schönheit sich dieser durchaus auch opulent-poppigen Songauswahl verweigern können.
Klaas Tigchelaar für Klenkes
8 Eimer Hühnerherzen
Musik
(Kidnap Music / Cargo) VÖ: 25.02.
Stream|mp3|CD|Vinyl
»Für meine Band bin ich ein Zoni« – das sind die ersten Worte von Sängerin/Gitarristin Apocalypse Vega auf »Musik«, die sich mit dem Bandnamen aufs vorzüglichste verstehen. Die Provokation sucht man beim freundlich-schrammeligen Nylonsaiten-Poppunk zwar erstmal vergeblich, aber da ist der Masterplan längst in Erfüllung gegangen. Wer aus Berlin-Kreuzberg kommt (und Johnny Bottrop von Terrorgruppe am Bass hat) ist auf der Punkrock-Allee wohl schon eine Straßenecke weiter, was Selbstreflektion, Zukunftsmusik und Humor zum Weltuntergang betrifft.
Statt dem schwachsinnigen Vergleich von radioeins mit Wir Sind Helden zu folgen, sollte man das Trio als die schwer bewaffneten Lagerfeuer-Hauptstadt-Tocotronic ohne intellektuellen Geschwurbel-Unterbau klassifizieren. Kokette Chorgesänge (die stets ein wenig nach »Die Ärzte« klingen) von Bottrop und Schlagzeuger Bene Diktator machen die Sache direkt rund. Produziert hat Kurt Ebelhäuser (Blackmail et al.) und diese Querstrebe macht auch direkt deutlich, dass 8EH im Musikuntergrund gut verwurzelt sind, und mit ihrem frischen Sound sowie Vegas stets leicht grell-aufdringlicher Stimme trotzdem nicht den alten Szenewurzeln hinterherbuddeln.
Die verzerrte E-Gitarre hat es dann doch auch noch aufs Album geschafft (wie Trompete und Klavier auch), was dem erfrischenden Gesamteindruck aber natürlich keinen Abbruch tut. Und schlussendlich müssen diese schalkhaft-schlauen, kreativen und positiv-neunmalklugen Texte als ewiger Joker der Band erneut gewürdigt werden – ein tolles Album auf jeder Gefühls- und Metaebene.
Klaas Tigchelaar für Schnüss
Mitski
Laurel Hell
(Dead Oceans/Cargo) VÖ: 04.02.
Stream|mp3|CD|Vinyl
Tief furchende Sehnsucht im Hermelinmantel des gescheiten 1980er-Synthpop-Vorabendsounds. Ein vergeblicher Versuch, den Musik-Kosmos der japanisch-amerikanischen Künstlerin Mitski Miyawaki in einem Satz zu bündeln. Immerhin ist sie von ihren folkigen Anfängen spätestens mit »Be The Cowboy« von 2018 hinüber zum anspruchsvollen Indie-Rock gerudert.
Und nun, nicht ohne emotionale Schlagseite durch die omnipräsente Pandemie, erwächst sie wie die große Pop-Diva in einem mutigen Konglomerat aus Retro-Synthesizern und Hit-Großspurigkeit, was ihr erwartbarerweise ziemlich gut steht. Obwohl viele Songs bereits 2018 erste Gestalt annahmen, wurden sie erst im Mai 2021, unter Mitwirkung von Produzent Patrick Hyland zur vollen Blüte getrieben. Ein tanzbarer, überwältigender Flashback in vermeintlich bessere Zeiten, der klanglich trotzdem perfekt in die Gegenwart passt. Vergleiche mit Kate Bush, Eurythmics, St. Vincent, Fiona Apple oder Joan As Police Woman streifen die Kreativität von Laurel Hell nur ansatzweise, in einem perfekt austarierten Spielfeld aus Bubblegum-Synthie-Glückseligkeit und tieftraurigem Schwermut, welches sich dem unkomplizierten Klangperfektionismus der Gegenwart dankbar in den Schoß legt.
Ein wahrlicher Höhepunkt im frühen neuen Jahr, der poppige Retrospektive und tiefgründiges Songwritertalent in einem dunklen,
wuseligen, mitunter fröhlichen, mitunter traurigen Musikkosmos gefangen hält, dessen spannende Erkundung uns noch einige melancholische Monde wachhalten darf.
Klaas Tigchelaar für Schnüss
Triosence
Giulia
(Sony Masterworks) VÖ: 04.02.
Stream|mp3|CD|Vinyl
Natürlich werden beim Titel des Albums Erinnerungen an Italien wach. Falls nicht an eine mögliche, verflossene Jugendliebschaft aus dem Familienurlaub in der Toskana, dann doch an das gleichnamige Auto von Alfa Romeo, das in seiner schönsten Form von 1962-1978 hergestellt wurde. »Eine musikalische Befreiung« seien die Aufnahmen für das deutsch-kubanische Trio in der italienischen Region Friuli Venezia im Juni 2021 gewesen, berichtet das Presse-Info. Und natürlich passt die nüchterne Strenge der Pandemie schlecht zu italienischem Dolce Vita und erfrischend-frei aufspielendem Jazz, den Triosence gerne als »Song Jazz« bezeichnen.
Melodie und Songstruktur mit aus der Hüfte geschütteltem Jazzvibe, vorneweg durch Bernhard Schülers souverän-fließende Klavierarpeggios gelenkt, die hier zweimal verehrten Jazzgrößen gewidmet wurden (»Armando’s Farewell« für Chick Corea und »Needless To Say« für sein Idol Bill Evans). Neben seinen trauten Begleitern Omar Rodriguez Calvo (Bass) und Tobias Schulte (Drums) holen er mit dem legendären italienischen Jazz-Trompeter Paolo Fresu an Trompete und Flügelhorn nicht nur weitere Jazz-Kompetenz dazu, sondern auch mehr von dieser toskanischen Zeitlosigkeit.
Ein bauchiges Glas Rotwein, eine leichte Brise zum Sonnenuntergang auf der Terrasse, endloses Landschaftspanorama und der Sound von Triosence aus den Lautsprechern, der die derzeitige gesellschaftliche Schwere hinnimmt, aber auch Hoffnung verbreitet und im Frühling durch so manch schwere Melancholie hindurchhilft.
Klaas Tigchelaar für Schnüss
Eels
Extreme Witchcraft
(E-Works/PIAS/Rough Trade) VÖ: 28.01.
Stream|mp3|CD|Vinyl
Nun sind wir im dritten Jahr der Pandemie und die Musiker wissen nun auch langsam nicht mehr weiter. Konzerte und Touren planen ist quasi unmöglich, »pandemic recording was a new approach for me«, erklärt Bandchef Mark Oliver Everett aka. E zu den Vorbereitungen dieses mittlerweile 14. Studioalbums. Erfreulicherweise kamen ein paar glückliche Umstände zusammen: E nahm Kontakt mit John Parish (der schon das Erfolgsalbum »Souljacker« produzierte) auf, was in einem äußerst kreativen, digitalen Austausch von Songideen und Klangschnipseln zwischen UK und L.A. mündete.
Die erste Zusammenarbeit seit 20 Jahren führt gleichzeitig in einem großen Bogen zurück zu den Anfängen der Eels, staubig-brüchiger Homerecording-Pop mit großen Sounds und der charismatisch-knisternden Stimme von Everett. Aber Homerecording ist 2022 natürlich (auch und schon wieder wg. Corona) längst Profi-Standard und klingt dementsprechend opulent, auch wenn das in wütenden Songs wie »What It Isn’t« nicht unbedingt fokussiert wird.
Sobald die bluesig-riffende Rasierer-Gitarre im Opener »Amateur Hour« erfolgreich an alte Eels-Zeiten gemahnt, oder das Fender Rhodes-Klavier in »Stumbling Bee« diesen indirekten Groove abrollt, erinnert man sich an die gute alte Zeit. Und freut sich auf die Zukunft ohne Virus, für die diese durchweg starken, poppigen und dezent-kratzigen zwölf Songs schonmal eine nachdenkliche, aber optimistische Duftmarke setzen.
Klaas Tigchelaar für Schnüss